: Visionen für Sieger
Der US-Publizist Thomas L. Friedman lotet die Tiefen und Untiefen einer flachen Welt aus. Sein Ergebnis: Die Globalisierung hilft, allen Individuen Zugang zur Weltwirtschaft zu verschaffen
VON MARTIN ALTMEYER
Thomas L. Friedman ist in den USA ein hoch angesehener Publizist, der bereits mehrfach mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Für seinen Hauptarbeitgeber, die New York Times, ist er ständig als Reporter in den Krisengebieten der Welt unterwegs, immer auf der Suche nach Tatsachen. Gleichzeitig schreibt er regelmäßig Kolumnen für die Meinungsseiten, auf denen er sich als streitbarer Liberaler mit anderen Kolumnisten von der Linken oder der konservativen Intelligenz Wortgefechte auf hohem Niveau liefert.
Was Friedman als Global Player des Qualitätsjournalismus auszeichnet, die Verbindung von gründlicher Recherche, intelligenter Analyse und unbändiger Meinungsfreude, kommt auch seinem neuesten Buch über den Stand der Globalisierung zugute, das im Untertitel nicht weniger beansprucht als „eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts“ zu erzählen. Die gelegentlich überbordende Fülle der Fakten wird in einer einzigen suggestiven Metapher eingefangen: im Bild von der „flachen Welt“.
Gemeint ist die im Prozess der Globalisierung stattfindende Einebnung von Unterschieden, die sich zwischen Kontinenten, Nationen, Klassen, Hautfarben und Geschlechtern aufgetürmt haben. Diese Einebnung wird von Friedman als Utopie der universellen Chancengleichheit gefeiert, an der alle ohne Unterschied teilhaben können – freilich auch diejenigen, die Terrornetze aufbauen, weil sie in einer zusammenwachsenden Welt ihre Reinheitsobsession gefährdet sehen.
Wie sieht die Chronologie der Globalisierung aus, die Friedman mit der Flachheit der Welt enden lässt? Sie beginnt damit, dass Kolumbus im Jahr 1492 aufbricht, um die Erde zu umrunden und so den Nachweis ihres Kugelcharakters zu erbringen. Denn mit seiner Entdeckungsfahrt ebnet er dem Handel zwischen Alter und Neuer Welt den Weg. In diesem ersten Stadium, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts endet, sind die europäischen Nationen mit ihrer physischen Potenz die treibende Kraft der wirtschaftlichen Integration.
Ein wirklicher Weltmarkt bildet sich aber erst im zweiten Stadium heraus, das Friedman zwischen 1800 und 2000 datiert, unterbrochen durch Weltwirtschaftskrise und die beiden Weltkriege. Damals wurden die multinationalen Konzerne des Westens zum Hauptträger der Globalisierung, angefangen mit der industriellen Revolution über die Ausdehnung der Telekommunikation bis zum digitalen Computerzeitalter.
Erst im dritten Stadium – vorbereitet durch den Zusammenbruch des Sozialismus und den weltweiten Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie, und begleitet vom Aufstieg Chinas, Indiens und anderer Länder der ehemaligen Dritten Welt – fallen die letzten Mauern, die bisher nicht-westlichen und nicht-weißen Gruppen den Zugang zur Weltwirtschaft verwehrt haben. Zu den Faktoren, die zur Einebnung der Welt führen, zählt Friedman nicht nur technologische Innovationen wie das Windows-Betriebssystem, Internet, Workflow-Software, Suchmaschinen etc.
Für ihn gehören vor allem auch jene hierzulande so umstrittenen Praktiken des Outsourcing und Offshoring dazu, die den Ressourcenfluss von Arbeit, Kapital und Information nach allen Seiten öffnen. Dass die Welt so flach und damit übersichtlich und durchlässig geworden ist, erweitert die Zahl der potenziellen Mitspieler, die sich mental nur an eine einzige Regel halten müssen: besser, schneller und effizienter sein zu wollen sein als die anderen.
Hier haben wir das uramerikanische Credo, mit dem wir Alteuropäer uns so schwer tun: der Glaube an sich selbst und sein eigenes Können, die Begeisterung für den Wettbewerb, an dessen Ende zwar Gewinner und Verlierer stehen, vor allem aber: der Fortschritt. Nichts macht die geforderte Wettbewerbsmentalität deutlicher als ein ins Mandarin übersetztes afrikanisches Sprichwort, das Friedman an einer chinesischen Fabrikwand findet:
„Jeden Morgen erwacht in Afrika eine Gazelle. Sie weiß, sie muss schneller rennen als der schnellste Löwe, oder sie wird gefressen. Jeden Morgen erwacht in Afrika ein Löwe. Er weiß, er muss schneller rennen als die langsamste Gazelle, oder er wird verhungern. Egal ob Löwe oder Gazelle – bei Tagesanbruch muss man rennen.“
Man mag diese Analogie aus der Wildnis zurückweisen oder darin jenen Sozialdarwinismus bestätigt sehen, den wir dem neoliberalen Marktradikalismus gerne anlasten. Was der Vergleich aus der Tierwelt aber in jedem Fall leistet: Im Bild vom Rennen um Leben und Tod wird etwas vom gesellschaftlichen Klima deutlich, das der Geschwindigkeitsrausch der Globalisierung erzeugt – von der Raubgier und dem Jagdinstinkt auf der einen Seite und von der Angst, gefressen zu werden, und dem Davonlaufen auf der anderen Seite.
Zum Spannendsten an diesem außerordentlich materialreichen Buch gehören die vielen persönlichen Begegnungen, von denen der keineswegs uneitle Tom Friedman unaufhörlich berichtet. Es entsteht der Eindruck, er spaziert durch das globale Dorf und trifft ständig die Honoratioren. Nur sind das in diesem Fall die Vorstandsvorsitzenden der großen Unternehmen oder Banken, Venturekapitalisten, Medienmacher, Universitätspräsidenten oder die Botschafter des gesamten Globus.
Es sind die Sieger, denen er ihre Visionen und Erfolgsgeheimnisse entlockt und die er wohl zu seinen Freunden rechnet. Sie alle vereint jener ungebrochene Zukunftsoptimismus, der in den Untiefen der flach gewordenen Welt bloß Herausforderungen erkennt und von noch besseren Zeiten träumt.
Thomas L. Friedman: „Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 800 Seiten, 26,80 Euro