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Archiv-Artikel

Urteil über Serbiens Schuld

Heute will der Internationale Gerichtshof in Den Haag entscheiden, ob Belgrad für Völkermord in Bosnien verantwortlich ist. Ein positives Votum hätte weit reichende politische Konsequenzen

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

Wie immer, wenn überlebende Frauen des Massakers von Srebrenica auftreten, fließen die Tränen. Auch am vergangenen Freitag am Busbahnhof von Sarajevo, als sich zwanzig von ihnen von Mitstreiterinnen verabschiedeten, um nach Den Haag zu fahren. Diesmal zum Internationalen Gerichtshof (IGH), der wichtigsten juristischen Instanz des Völkerrechts. Der IGH soll heute entscheiden, ob Serbien und Montenegro bei dem Krieg von 1992 bis 1995 in Bosnien und Herzegowina eine Aggression und einen Völkermord begangen haben.

Die Stimmung unter den Frauen schwankt zwischen Hoffnung und Skepsis. Es ist ja nur eine Stiftung, in der mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft zusammengefasst sind, die hinter der 1993 eingereichten Klage steht. Der Staat Bosnien und Herzegowina selbst kann nicht klagen. Gegen den Widerstand einer der drei „konstitutiven Nationen“, der Serben, Muslime und Kroaten, kann die Zentralregierung nicht handeln. Die serbische Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina hat ohnehin ihr Veto eingelegt. Es geht um viel. Sollte der IGH die Vorwürfe akzeptieren, wären Serbien und Montenegro die ersten Staaten, die des Völkermords für schuldig erklärt worden wären.

Der Schadenersatz in Milliardenhöhe spielt bei den Opfern nur eine untergeordnete Rolle. Niemand glaubt daran, dass Serbien die Entschädigung aufbringen könnte. „Was wir wollen, ist vor allem, dass festgestellt wird, was geschehen ist“, sagt Hadžića Mehmedović, eine vor sieben Jahren nach Srebrenica zurückgekehrte Frau. „Meinen Mann, meine Söhne und meine Verwandten macht das Urteil nicht wieder lebendig.“

Den Opfern geht es um die Feststellung von Schuld. Sie treffen damit einen empfindlichen Nerv bei serbischen Politikern, die bis heute die Aggression des Milošević-Regimes gegen Bosnien leugnen. Es geht sogar um die Legitimation des serbisch dominierten Teilstaats in Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska. Fiele das Urteil zu Gunsten der Opfer aus, hätte dies erhebliche politische Konsequenzen. Denn wie lange könnte sich die Republika Srpska noch halten, wenn sie vom IGH als Resultat von Aggression und Völkermord definiert wird?

Der bosnisch-serbische Ministerpräsident Milorad Dodik ließ deshalb auch schon wissen, dass die Republika Srpska das IGH-Urteil „nicht anerkennen“ werde. Die Serben in Bosnien und Serbien fühlen sich durch die Klage als Nation an den Pranger gestellt. Und ihre Anwälte konnten lange Zeit verhindern, dass sich der IHG überhaupt für die Klage als zuständig erklärte. „Doch er hat dies im Jahre 2000 getan,“ sagt die Historikerin Fadila Memišević, Vertreterin der Gesellschaft für bedrohte Völker in Sarajevo, seit jeher treibende Kraft der Klage. Sie unterstützte schon 1993 den amerikanischen Juristen Francis Boyle, der erstmals die Klage vor den Internationalen Gerichtshof brachte. Das Gericht handele aber nicht außerhalb der politischen Interessen der Mächte der Welt, das müsse man auch jetzt sehen, sagt Fadila Memišević. Die serbische Diplomatie tue alles, um ein ungünstiges Urteil zu verhindern. So dürfe das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien auf Betreiben Serbiens keine Unterlagen an den Internationalen Gerichtshof senden, die den Völkermord und die Aggression Serbiens gegenüber Bosnien bewiesen. Unter den 16 Richtern würden zudem mit den Vertretern Russlands, Mexikos, Venezuelas und der Slowakei Staaten vertreten sein, die gegen die Klage stimmen wollen. „Wie es ausgeht, ist also noch offen“, sagt Fadila Memišević. „Wir werden aber auch im ungünstigsten Fall weitere juristische Schritte unternehmen.“