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Archiv-Artikel

Der Zwang zum Pkw

SENIOREN Die Fantasielosigkeit der öffentlichen Nahverkehrsbetreiber und technische Neuerungen führen dazu, dass ältere Menschen auf Autos angewiesen bleiben

Der andere Verkehrsclub

■ Verein: Der Verkehrsclub Deutschland e. V. (VCD) hat sich umweltbewusster Mobilität verschrieben. Im Gegensatz zum Allgemeinen Deutschen Automobilclub ADAC setzt sich der Verein für die Belange aller Verkehrsteilnehmer ein – von Auto- über Fahrradfahrer bis hin zu den Kunden des öffentlichen Nahverkehrs. Der 1986 gegründete Verein hat nach eigenen Angaben 55.000 Mitglieder, der ADAC knapp 19 Millionen.

■ Ranking: Die Auto-Umweltliste veröffentlicht der VCD seit 25 Jahren. Zur Bewertung werden der Treibstoffverbrauch, der CO2-Ausstoß, die Schadstoff- und Lärmemissionen herangezogen. Insgesamt nimmt der Club 400 Modelle unter die Lupe und bewertet ihre Umweltverträglichkeit.

■ Kaufhilfe: Neben den Prüfergebnissen für die gängigen Fahrzeugmodelle bietet das VCD-Ranking auch Tipps zum Autokauf. Die Liste kann unter www.vcd.org zum Preis von 3,35 Euro heruntergeladen werden. (wum)

VON HANNES KOCH

BERLIN taz | Mit seinen Fachwerkhäusern ist Prüm in der Eifel hübsch – aber in mancher Hinsicht weit vom Schuss. Etwa verkehrstechnisch: Nur zwei Mal pro Tag komme der Bus, berichtet Ursula Lenz über den Alltag ihrer 92-jährigen Mutter, die auf dem Land südwestlich von Bonn in einer eigenen Wohnung lebt. Das funktioniert noch, weil sie von Verwandten zum Geschäft und zum Arzt kutschiert wird.

Für viele ältere Menschen sind jüngere Leute mit Auto die Rettung. Davon ist Ursula Lenz nicht nur persönlich betroffen: Als Pressereferentin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen in Bonn weiß sie, dass die Bedeutung derartiger Fragen infolge des demografischen Wandels für Millionen Bundesbürger zunimmt. Sie leben länger, der Anteil der Älteren an der Bevölkerung steigt. So fragen sich viele: Kann ich mich im Alter noch selbstständig bewegen? Wie komme ich von A nach B, wenn ich selbst nicht mehr Auto fahren kann?

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) hat am Mittwoch seine neue Liste umweltfreundlicher Fahrzeuge vorgestellt. Mit dabei ist auch eine Einschätzung der Seniorenfreundlichkeit der Autos, die heute angeboten werden. Welche Kfz passen für die ältere Generation?, fragt der ökologisch orientierte Verband. Und weist darauf hin, dass das Auto „für viele Ältere Voraussetzung für ihre Unabhängigkeit und gesellschaftliche Teilhabe“ sei. Wohlgemerkt: nicht Bus und Bahn, sondern das Auto.

Auch Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaft-Firmen-Verbund InnoZ sagt: „Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Mobilitätsaufkommen – heute 85 Prozent – wird sogar leicht ansteigen. Denn die älter werdenden Menschen sind Auto-sozialisiert. Sie wechseln nicht so einfach zu anderen Verkehrsmitteln, das ist durch Untersuchungen belegt.“ Im Gegenteil: Weil viele länger gesund bleiben und neue technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, dehnt sich die Lebensphase noch aus, in der man individuell mobil im Auto sein kann.

Verantwortlich sind unter anderem technische Innovationen. So wissen die Autohersteller, dass ein Teil ihrer Kunden ins Rentenalter kommt, und stellen sich darauf ein. Breitere Türen erleichtern das Einsteigen, eine höhere Position des Fahrersitzes verbessert den Überblick.

Hinzu kommen grundsätzliche Innovationen, für die stellvertretend das Google-Auto steht. So können auch stark Sehbehinderte im eigenen Wagen unterwegs sein, weil Hard- und Software die Steuerung übernehmen. Das aber ist nur ein kleiner Teil einer breiteren Entwicklung. Deutsche Hersteller arbeiten an Familienkutschen mit Autopilot. Zudem gibt es seit einigen Jahren Elektrofahrräder – eine verkehrstechnische Erfolgsgeschichte. Die 1,7 Millionen in Deutschland verkauften Exemplare helfen unter anderem Senioren bei Touren, die sie mit einem nur muskelgetriebenen Rad nicht mehr schaffen würden. So passt sich der Individualverkehr neuen Bedürfnissen an – oft im Gegensatz zum öffentlichen Personennahverkehr mit Bussen und Bahnen.

Der ÖPNV funktioniert zwar in allen großen Städten, wo sich die teure Infrastruktur wegen der hohen Passagierzahlen mehr oder weniger rechnet. In dünner besiedelten Gebieten jedoch leidet der traditionelle Kollektivverkehr unter der Sparpolitik der kommunalen Haushalte. Die Häufigkeit der Verbindungen wird verringert, manche Linie gleich ganz eingestellt. Dabei spielt auch die Fantasielosigkeit von Stadtverwaltungen und Firmen eine große Rolle.

Seniorenlobbyistin Lenz sagt einerseits: „Um die Mobilität älterer Menschen zu erhalten, ist der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs notwendig, besonders auf dem Land.“ Aber sie weiß auch: Mit den bisherigen Konzepten geht das nicht. „Bessere Nahverkehrsangebote nützen nichts, wenn die Bahnen und Busse schlecht erreichbar sind.“ Alte Menschen können nicht mit dem Zug fahren, weil die Bahnsteige nur über Stufen zu erreichen sind und Aufzüge fehlen. Oder ein Höhenunterschied zwischen Bahnsteig und Fahrzeug behindert das Einsteigen. Außerdem fordert Lenz: „Die öffentlichen Haushalte müssen mehr Geld für neue Mobilitätsdienstleistungen wie etwa selbst organisierte Fahrdienste zur Verfügung stellen.“

Das sieht auch Andreas Knie so. „Der ausschließliche Transport mit Großgefäßen ist zunehmend fehl am Platz.“ Moderner Nahverkehr, solle er noch eine Berechtigung haben, müsse viel „kundenorientierter“ werden, sagt der Wissenschaftler. Beispiele dafür gibt es hierzulande nur wenige. Als ein Vorbild kann ein Angebot etwa im hessischen Raum Erbach/Michelstadt dienen. Die dortige Odenwald-Regional-Gesellschaft (OREG) bietet eine Internetplattform, mit deren Hilfe Berufspendler private Fahrgäste in ihren Autos mitnehmen können – eine Kombination aus selbstorganisiertem und öffentlichem Verkehr.

Das Projekt des hessischen Nahverkehrsanbieters ist eine Art öffentlicher Version von Uber. Dieser Internetdienst einer US-Firma ist gerade in Hamburg verboten worden. Das Taxigewerbe hatte gegen die neue Konkurrenz rebelliert. Der Konflikt in der Hansestadt und einigen anderen Städten zeigt zweierlei: Es gibt neue Mobilitätskonzepte, die den Bedürfnissen vieler Menschen entgegenkommen – möglicherweise auch denen der Generation 60 plus. Die etablierten Anbieter, Firmen und Organisationen hingegen tun sich schwer, diese zu akzeptieren und in ihre Geschäftsmodelle einzubauen.