: Weltgeist aus Ostwestfalen
Ist das Nachdenken über Gesellschaft heute nicht mehr als ein exotisches Hobby? Eine Tagung in Weimar erinnerte an die Zeit, als die Universität Bielefeld Gesellschaftstheorie in großem Stil betrieb
VON ALEXANDER CAMMANN
„Ich habe jetzt einen Standpunkt!“ Diesen triumphierenden Ausruf hört der 24-jährige Althistoriker Rainald Maria Goetz, als ihm ein Freund von einer orthodoxen Marx-Schulung berichtet. Ein Jahr zuvor noch strebte der glücklich Erweckte malend und bildhauernd ein luxuriöses Eigenheim an. Später wundert sich Goetz auf einer Party über das Wort „Revi“, mit dem der lockengekrönte Kopf der Marx-Gruppe diverse Statements kommentiert. Rasch folgt die Aufklärung: „Revisionist“.
Dreißig Jahre alt sind diese Töne; unendlich fern und fremd klingen sie heute ideologisch untrainierten Ohren. Die Episode stammt aus einem bemerkenswerten Essay des heute für Vanity Fair bloggenden Autors Rainald Goetz. Erschienen 1978 im Kursbuch, führt es mitten hinein in die desorientierte Endphase des roten Jahrzehnts, in die Monate nach Schleyer-Mord und „Deutschem Herbst“. Der leidende Goetz irrlichtert zwischen den repressiven bürgerlichen Strukturen und den Wahnwelten von „Spielzeugrevolutionären“. Er durchschaut den „wohlig erlebten Anpassungs- und Gruppenprozeß“ innerhalb der ach so kritischen Linken: „Er hat einen Standpunkt, auch er hat die Fragen endlich beseitigt.“
Nun sind Standpunktfragen heute längst obsolet geworden. Die dogmatische Theorielinke von einst hat sich in den letzten Jahrzehnten von ihren Orthodoxien befreit. Viele schafften es auf Lehrstühle und Redaktionssessel; sie schreiben brillante Essays und Bücher. Man denke beispielsweise an den Historiker Karl Schlögel, den Publizisten Gerd Koenen, den Historiker Heinz Dieter Kittsteiner, den Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, den Kunsthistoriker Horst Bredekamp, die Journalisten Götz Aly und Thomas Schmid. Ein paar „Kapital“-Kurs-Besucher allerdings wurden zu Opfern, die den Identitätswechsel nicht verkrafteten: Als Schatten ihrer Vergangenheit wanken sie pfandflaschensammelnd durch die Straßen von Kreuzberg; was man als Menetekel immer mal wieder mit Schaudern beobachtet. Bemerkenswert ist dabei der Relevanzverlust, den die Gesellschaftstheorie in diesen Wandlungsprozessen erlitten hat. Niemand würde heute mehr Theorie als Lebenselixier empfinden. Über Mehrwerttheorien diskutiert man nicht mehr am Frühstückstisch, schon deshalb nicht, weil man sie nicht kennt. Die große Verheißung von Veränderung, die man mit Theoriearbeit einst verknüpfte, konnte sie nicht einlösen. Die sichtbaren Umwälzungen in der westlichen Welt wurden zuletzt durch Popkultur, nicht durch Gedankenarbeit ausgelöst.
Nun könnte man sich freuen, dass die Lektüre von Gesellschaftstheoretikern für alle diejenigen, die sich nicht professionell mit ihr herumschlagen, nur noch ein exotisches Hobby ist; immerhin vermeidet man auf diese Weise alle ideologischen Krämpfe der letzten Jahrzehnte. Doch für das Fortleben überliefernswerter Denktraditionen wird es kaum ausreichen, dass Dramaturgen ihre Programm-Hefte mit Giorgio-Agamben-Zitaten aufhübschen oder Judith-Butler-Zitate die Antragsprosa für Ausstellungsprojekte bei der Kulturstiftung des Bundes schmücken. Vielleicht ist gesellschaftskritisches Denken tatsächlich bald nur noch ein Wörterlieferant und sind die Zeiten, als man Theorien noch zum Verständnis der Gegenwart brauchte, vorbei. Alle analysierende Fragen sind dann beseitigt; nur in Theateraufführungen würden wir dann erfahren, was es mit dem „Kapital“ von Karl Marx einmal auf sich hatte.
Bevor dieser eingestandenermaßen unproduktive Überdruss vollends in kulturkritisches Ressentiment umschlägt, empfiehlt sich zur Abkühlung des Gemüts die Flucht in gemäßigte Denkzonen. Auf nach Weimar also, wo am Wochenende eine Tagung Antworten auf die Frage „Was war Bielefeld?“ suchte. Gemeint war die dort 1969 gegründete Universität, die zum wichtigsten Lieferanten des bundesrepublikanischen Theoriehaushalts wurde. Schauen wir also noch einmal auf die heroische Zeit intellektueller Produktion. Bedeutende Leistungen wurden hier jahrzehntelang auf vielen tausend Seiten vollbracht: die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann, das vom Historiker Reinhart Koselleck herausgegebene Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“, die bislang vierbändige „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ des Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler, schließlich die Laborschule des Pädagogen Hartmut von Hentig. Können sie überhaupt noch glänzen, diese allmählich mit Patina überzogenen Werke alter oder toter weißer Männer? Immerhin lösten ihre Deutungsmodelle von Gesellschaft einst die heißesten Debatten aus.
Heidelberg, Tübingen, Weimar, Königsberg: In Deutschland war es aus der Provinz nie sehr weit zum Weltgeist, anders als im von Paris dominierten Frankreich. Das galt auch für die Bundesrepublik nach 1945, mit Bielefeld, Konstanz oder dem Starnberger Max-Planck-Institut von Jürgen Habermas. Die Randlage schützte vor der theoretischen Überhitzung, die in Berlin oder in Frankfurt zum Alltag gehörte. Deshalb war trotz aller Gegensätze zwischen thüringischer Kulturlandschaft und ostwestfälischer Steppe die Klassikerstadt Weimar der ironisch-symbolische Ort, um über den Mythos Bielefeld nachzusinnen.
Im Festsaal des Goethe-Hauses Am Frauenplan diagnostizierte gleich zu Beginn Clemens Albrecht das „Bielefeld-Syndrom“. Am Beispiel des NS-kontaminierten, einflussreichen Soziologen Helmut Schelsky (1912–1984), der dem Gründungsausschuss der Universität vorstand, beschrieb Albrecht überzeugend das „Konversionsdenken“, das die deutschen intellektuellen Wandlungen im 20. Jahrhundert kennzeichnete: Die vorgebliche „Wirklichkeit“ wurde nach demokratischer Läuterung zur Manie ideologisch gebrannter Konvertiten. Diese voreilige Realitätsfixiertheit dominiere hierzulande bis heute. Stattdessen plädierte der Soziologe forsch für die Suche nach Ideen als „Antizipation besserer Daseinsmöglichkeiten“.
Um letztere ging es Hartmut von Hentig in seiner Pädagogik, die amerikanischen Wurzeln entstammte. Der 1925 geborene von Hentig folgte der Tagung; eine eindrucksvoll frische Gestalt, die dennoch mit korrekter Fliege und Silberhaar aus einer vergangenen Epoche zu stammen schien. Von Hentigs Urteil fiel eindeutig aus: Die Besonderheit der Universität Bielefeld sei eine „Legende“; sie sei rasch unter dem Druck der Studentenmassen in der bundesdeutschen Normalität angekommen. Einen realen Bielefelder Theoriemythos durchwühlte hingegen Markus Krajewski, um dessen praktische Funktionsweise zu ergründen: Niklas Luhmanns geheimnisumwitterten Zettelkasten, mit dem der Soziologe die Gesellschaft ordnete. Bielefeld als geistige Lebensform bekam in Weimar nicht zuletzt durch amüsante private Erinnerungen Konturen. Gustav Seibt, der 1983/84 an der Universität studierte, ließ jene Zeit zwischen Nachrüstungsdebatten und Luhmann-Seminaren, in denen man zu fünft die Druckfahnen zu dessen Hauptwerk „Soziale Systeme“ durcharbeitete, ironisch Revue passieren. Effektvoll rechnete Valentin Groebner mit den Historikern seiner „theoriegesättigten“ Bielefeld-Phase zu Beginn der Neunzigerjahre ab: Stolz war man auf das raue „Bitte klär das!“ in der Seminardiskussion, bei der sich hungrige junge Wölfe hinter dem Leitwolf sammelten. Bereits hier siegte streckenweise die Ästhetik über die Theorie: Ein Doktorand beichtete Groebner damals flüsternd, er habe sich einen „Merino-Pullover mit V-Ausschnitt, so wie der von Karl Heinz Bohrer“ gekauft. „Bielefeld“ war keine Einheit, so das Fazit der Tagung, sondern vielmehr eine „heterogene Ansammlung von Angeboten“ (Gustav Seibt).
Abends saß man in einem modernen Sakralbau des Geistes beisammen, im Bücherkubus der Anna-Amalia-Bibliothek. Es sprach der 80-jährige Philosoph Hermann Lübbe, der von 1966 bis 1970 die Gründung der Bielefelder Eliteuniversität als Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen vorantrieb. Wie ein Märchen klang sein Hinweis auf die 25 Universitäten, die zwischen 1960 und 1975 in der Bundesrepublik konzipiert und größtenteils auch gebaut wurden. Draußen im abendlichen Dunkel, während Stimmen und Schritte in den Gassen von Weimar allmählich verhallten, kam einem wieder Rainald Goetz in den Sinn. Der „innere Herzkern des Erlebens der Vorfahren“ bleibe verschlossen, so hatte er ein paar Tage zuvor in seinen Blog getippt. Das liege an der „maßlosen Radikalität des Verschwundenseins von Vergangenheit“. Pathetisch, aber wahr, auch im Fall Bielefeld. Bleibt also schon nach wenigen Jahren nur Ruinenromantik und Theoriearchäologie? Es wäre tröstlich, wenn trotz aller postmodernen Skepsis einige Überreste des Bielefelder Erbes irgendwann einmal wieder funkeln: das Wagnis umfassender Werke, Substanz und Sache anstelle von Pose und Stil, statt flauschiger Leichtigkeit wieder ein bisschen mehr Ernst – und die ausdauernde Arbeit, nicht an Standpunkten, sondern an ein paar großen Fragen.