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Archiv-Artikel

Laute Geschichten nur zur Anprobe

John Hardwicks Frisch-Adaption „Gantenbein“ verbaut sich den Perspektivwechsel in Sachen Selbsterfindung

An die Rampe der riesigen Pappkiste tritt Lars Rudolph. „Ich möchte, dass wir uns jemanden vorstellen“, sagt er. Die Pappkiste ist die Bühne. Ein Mann – erzählt der Schauspieler – beschließt fortan vorzugeben, blind zu sein. „Jetzt sucht er eine Geschichte.“ Die Pappkiste hinter ihm sieht aus wie ein lebensgroßes Puppenhaus: Drei Stühle stehen darin, ein Tisch, zwei Kleiderständer und eine Frau. Von dem vorgeblich Blinden wird behauptet, er probiere Geschichten an wie Kleider. Sein Name, so Lars Rudolph, sei Gantenbein.

Als Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“ 1964 erschien, war Identitätsfindung eine große Sache. Heute lächelt die Philosophie darüber: An das eine, wahre Ich glaubt niemand mehr, das Subjekt ist tot, dem Finden wird das Suchen, vor allem aber das Erfinden vorgezogen. Es war dieser Perspektivwechsel des Zeitgeists, der John Hardwick (Regie) und Glen Neath (Textadaption) mit Blick auf den Roman interessierte. Was insofern ein wenig verwundert, als dass dieser Wechsel ja mittlerweile auch satte 15 Jahre her ist und sowohl Kino als auch Theater bereits einige originelle Lösungen („Being John Malkovich“ etc.) zu seiner künstlerischen Umsetzung gefunden haben. Was Hardwick, der als Performer mit den Briten Blast Theory arbeitete und als Regisseur sowohl fürs Kino filmt als auch Videos für Blur und die Artic Monkeys fertigt, dem hinzufügen wollte – es blieb bei der Premiere seines „Gantenbein“ am Mittwoch im HAU im Unklaren.

Genau genommen entstand der etwas fade Eindruck, hier würden nicht Geschichten wie Kleider, sondern Kleider als Geschichten anprobiert. „Mein Name sei Gantenbein“, sagt Lars Rudolph und trägt einen Anzug, „Mein Name sei Enderlin“ und zieht einen Mantel an. Bei der weiblichen Protagonistin ist es gleich: Als Schaupielerin Lila umschmeichelt Annika Kuhl ein Kimono, als Maniküre Camilla ein weißer Kittel mit einem praktischen „C“ darauf. Im Kimono bemüht sie sich um Laszivität, im Kittel um Dämlichkeit.

In Frischs Buch sind alle Figuren samt ihrer Liebes- und Geschäftsbeziehungen brüchige Erfindungen eines Erzählers, der mit ihnen sein Leben in Versionen entwirft. Doch auf der Bühne geht es nicht um ein kraft Gedankenspiels erschlossenes Reich der Möglichkeiten. Eher hat man das Gefühl, die beiden Schauspieler wollten Gantenbeins Geschichte nacherzählen, wobei eben jeder die Sache etwas anders interpretiert.

Ursprünglich hatte Anne Tismer die weibliche Rolle spielen sollen. Dass sie ausstieg, ist bedauerlich, denn Annika Kuhl hat wenig Gespür für Zwischentöne – oder Hardwick hat ihr wenig gelassen. Alles ist laut und illustrativ in dieser Inszenierung, egal ob die Figuren in erster Person von sich oder die Schauspieler in der dritten Person über die Figuren reden. Auch Rudolphs nölender Gantenbein schafft es kaum, sein Blindenspiel als einen Akt der Souveränität zu verkaufen, der ihn vom ständigen Urteilszwang befreit.

Am Ende versucht Hardwick, das Verwirrspiel der Autorschaft noch einen Schritt weiter zu treiben: Die Schauspieler, die bislang immerhin noch mit mehr oder weniger ironischer Distanz in die von Frisch skizzierten Rollen geschlüpft waren, beginnen, sich über den weiteren Verlauf der Geschichte zu streiten. Sogar ein Stuhl fliegt in die Bühnenpappwand. Da wird es dann noch lauter. Ein neues formal-ästhetisches Kapitel im Umgang mit der hybriden Grenze zwischen Fiktion und Realität schlägt Hardwick damit nicht auf.

CHRISTIANE KÜHL

Bis 10. 12., jew. 19.30 Uhr, HAU 1