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Archiv-Artikel

Alles, außer Israel

Die fünfstündige Fernseh-Doku „Die Juden“ zeigt 3.000 Jahre jüdischer Geschichte. Und mogelt sich um das Problem Israel herum (20.45 Uhr, Arte, Folge 1 „Exodus“)

VON PHILIPP GESSLER

Das Lob war so überraschend wie überschwänglich. Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, stand auf, ergriff ein Mikrofon und sagte mit sanftem Münchner Akzent wie aus dem Nichts: „Tief beeindruckt und begeistert“ sei sie. Gesehen habe sie, „was ich mir immer gewünscht habe“, erklärte die 74-jährige Dame, „ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihnen danke.“

Was war geschehen? Ein neues jüdisches Museum in der Hauptstadt? Nein – denn die Veranstaltung mit Knoblochs denkwürdigen Worten fand gerade in diesem verwinkelten Libeskind-Bau in Berlin-Kreuzberg statt. Eine neue Synagoge in Knoblochs Heimatstadt vielleicht? Nein, die wurde bereits im vergangenen November in München eröffnet, und ähnlich euphorisch hatte die Zentralratspräsidentin schon da reagiert. Die Lobeshymne galt vielmehr einem weit profaneren Werk menschlichen Schaffens: Soeben hatten neben Knobloch noch etwa zweihundert andere Gäste einen einstündigen Zusammenschnitt der mehrteiligen Fernsehdokumentation „Die Juden. Geschichte eines Volkes“ gesehen, die ab heute Abend auf Arte ausgestrahlt wird. Und wenn es nach Knobloch geht, ist es offenbar fast eine staatsbürgerliche Pflicht, das insgesamt rund fünfstündige Gemeinschaftswerk mehrerer TV-Anstalten anzuschauen.

Wie Jungs, die stark nur in der Gruppe sind, haben sich nicht nur die fünf regionalen Sender WDR, BR, NDR, RBB und SWR, sondern auch die Mutter ARD mit Arte, der Filmproduktion „Gruppe 5“ und der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen zusammengeschlossen, um eine Dokumentation zu verwirklichen, die einiges an Mut erfordert. Über die rund 3.000-jährige Geschichte des jüdischen Volkes im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit seinem (Volks-)Bildungsauftrag etwas zu produzieren, ohne in die etwa 3.000 Fettnäpfchen zu treten, die allerorten herumstehen, ein solches Unterfangen erfordert tatsächlich eine gewisse Chuzpe oder Naivität.

Denn das Scheitern ist da fast schon programmiert. Zumal der Zentralrat mit seinen Vertretern in den Rundfunkräten jede Kamerafahrt, jede Sekunde des Hintergrundkommentars, jeden Schnitt aufs Genaueste begutachten wird. Und wer wollte es ihm verdenken angesichts der jüdischen Geschichte in Deutschland und des noch immer gegenwärtigen Antisemitismus – der vor wenigen Tagen, das nur nebenbei, etwa dazu führte, dass es einen judenfeindlichen Anschlag auf eine jüdische Kita in Berlin gab.

Da nimmt es nicht wunder, dass es nicht weniger als sieben Jahre (der WDR-Kulturchef Helfried Spitra sagte: „sieben biblische Jahre“) dauerte, bis aus der ersten Idee die Dokumentation entstand, wie die Macher Uwe Kersken als Produzent und die beiden Autorinnen Nina Koshofer und Sabine Klauser zu berichten wussten. Kersken sagte, seit 20 Jahren habe es keine so große Dokumentation mehr über dieses Thema gegeben – und das ist nicht übertrieben. Zwar gibt es seit langem die Knopp’schen „Hitler und seine Hunde“-Dokumentationen, und zwar massenweise. Mit dem Judentum selbst aber befasste sich das Fernsehen jenseits der Leichenberge des Holocaust kaum – was in der Antisemitismusforschung meist als großes Manko kritisiert wird.

Hinzu kommt: Die Fernsehdokumentation „Die Juden“ wird, nicht zuletzt angesichts des fast anmaßenden Titels, voraussichtlich für einige Zeit das Bild vieler Menschen über das Judentum hierzulande prägen, und zwar über Jahre. Das liegt an dem Medium, das für den Mehrheitsgeschmack offenbar eindringlichere Bilder und mehr Verständnis zu schaffen vermag als noch so viele kluge Bücher zur Geschichte des Judentums – obwohl es zu diesem Thema natürlich ganze Bibliotheken von Büchern gibt, die aber meist nur von Spezialisten gelesen werden.

Die Serie „Holocaust“ ist ein Beispiel für die Macht der Fernsehbilder. Denn diese doch eher schlichten Spielfilme aus Amerika, ausgestrahlt 1979, haben für die Auseinandersetzung der Mehrheit der Deutschen mit dem Völkermord an den Juden mehr gebracht als die mehr oder weniger brave Volksbildung in den Jahrzehnten zuvor – darüber sind sich die Holocaust-Forscher, etwas zähneknirschend, weitgehend einig. Ähnliches gilt für Steven Spielbergs „Schindlers Liste“. Claude Lanzmans verstörende Megadokumentation „Shoah“ über den Massenmord an den europäischen Juden mag intellektuell und filmisch bei weitem gelungener sein – aber wie viel Promille der Bevölkerung haben sie gesehen?

In einer Zeit, in der Fernseh- oder Filmbilder noch wichtiger geworden sind als noch zu Zeiten von „Holocaust“, „Shoah“ oder „Schindlers Liste“, kommt der Dokumentation „Die Juden“ also fast per se eine große Bedeutung zu. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil die Dokumentation nicht nur international verkauft werden soll, wie die Macher ankündigten. Dreißigminütige Zusammenfassungen der Einzeldokumentationen sollen zudem in den Schulen als Unterrichtsmaterial angeboten werden.

Der Wiener Judaist Klaus Davidowicz, der neben Raymond Scheindlin, Professor für Jewish Studies in New York, als wissenschaftlicher Berater fungierte, beschrieb die Wirkung der Serie auf Schülerinnen und Schüler optimistisch so: In einer 8. Klasse des Jüdischen Gymnasiums von Wien habe er wichtige Gestalten der rabbinischen Gelehrsamkeit nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach der Zeitenwende durchgenommen. Praktisch nichts sei hängengeblieben. Dann habe er „als Raubkopie“, wie er ironisch meinte, den zweiten Teil der TV-Serie, die Folge „Diaspora“, gezeigt, die sich genau mit dieser Zeit beschäftigt – und da habe es tatsächlich einen Lernerfolg gegeben. Bilder sind häufig eben stärker als Worte, gerade bei den meisten jungen Menschen, deren Weltsicht ganz offensichtlich immer mehr durch visuelle Kommunikation geprägt ist.

Und wie sind sie nun, die Bilder und Worte, von denen die Macher so viel erwarten? Zunächst ein kleiner Schock: Schon der gut zehnsekündige Trailer vor Beginn jeder einzelnen Folge sorgte bei der Präsentation der Dokumentation für erste Lacher. Die Stimme aus dem Off erzählt mit bedeutungsschwerem Timbre etwas über „geniale Denker“, die aus dem Judentum erwachsen seien – just da erscheint das Bild der US-Sängerin Barbra Streisand. Ein dummer Schnitt, eine Minipanne – aber das schafft, gleich zu Beginn der Serie, natürlich nicht gerade Vertrauen in die Kunst der Macherinnen.

Nachher wird es besser. Der TV-Serie gelingt, oft gar mit einiger Eleganz, eine recht stimmige Mischung aus nachgespielten Szenen, Experteninterviews und Dokumentationen über die heutige Lage von Juden. Dass die mit Schauspielern nachgestellten historischen Ereignisse (neudeutsch „Reenactment“ genannt) manchmal am Rande der Peinlichkeit entlangsegeln, etwa wenn etwas stümperhafte Kampfszenen gezeigt werden oder wenn im Auge eines Propheten ein Feuer brennt, weil er vor der Rache Gottes warnte – geschenkt. Vielleicht sind solche eher platten Bilder ja wirklich nötig, um Jugendliche heutzutage noch hinter dem Ofen hervorzulocken. Diesem hehren Ziel zuliebe mag man auch ein Auge zudrücken, wenn die Regisseurinnen der Versuchung nicht widerstehen können, den brennenden Dornbusch zu zeigen, aus dem laut der Thora Jahwe zu Moses sprach.

Insgesamt aber kann man sehr viel bei dieser Serie lernen, vor allem aus den Passagen, in denen die Blüte jüdischen Lebens gezeigt wird – Dokumentationen über die Verfolgungen und Massenmorde an Juden von der Zeit der Kreuzzüge über die Pogrome in Russland bis zum Holocaust gibt es genug. Zudem verfestigen sie in den Köpfen allzu vieler, gerade junger Leute das Bild von den Juden als den ewigen Opfern. Wie es der Dokumentation dagegen gelingt, eher unbekannte Zeiten wie etwa das erste jüdische Jahrtausend nach der Zerstörung des Tempels und dem Beginn der Diaspora mit der Niederschrift der Mischna und des Talmud kurzweilig und originell in Szene zu setzen, das ist verdienstvoll. Es ist unterhaltsame, öffentlich-rechtliche TV-Bildung im besten Sinne. Dazu beitragen können auch die gelungenen, oft geradezu furiosen Computersimulationen, für die nach Auskunft des Produzenten Unsummen ausgegeben wurden. Es ist gut investiertes Geld, denn wenn in diesen Simulationen der Tempel des Herodes oder das alte Babylon entsteht, dann ist Staunen angesagt: Ach, so hat das ausgesehen! – zumindest so ungefähr.

Und dennoch muss man, was die Serie angeht, eher von einem Scheitern sprechen. Sie weist neben vielen Verdiensten vor allem einen entscheidenden Mangel auf: Sie mogelt sich um das Problem Israel herum. In extenso lernen wir den Priester Esra kennen, den Philosophen Moses Maimonides und Doña Gracia Mendes, die in Konstantinopel die jüdische Gemeinde zu einer erstaunlichen Blüte führte. Auch das Judentum in den USA, die für Juden fast so etwas wie das neue „Promised Land“ sind, wie die Autorinnen suggerieren, wird ausführlich dargestellt.

Die Gründung des Staates Israel aber wird nur kurz im Rahmen des Themas Zionismus abgehakt. Dass der jüdische Staat seit 1967 palästinensische Gebiete besetzt hält, dass seit Jahrzehnten illegale Siedlungen gebaut werden, die den Frieden zwischen Palästinensern und Israelis erschweren, dass ein jüdischer religiöser Extremist den eigenen Premier in Israel erschoss – all dies und noch viel mehr wird schlicht nicht erzählt. Ist das etwa kein wichtiger Teil der jüdischen Geschichte?

Die schon 60-jährige Geschichte Israels endet in der Dokumentation praktisch mit der Gründung des Staates – als seien die folgenden Jahre in diesem gebeutelten, faszinierenden Land nur eine Episode in der Geschichte des jüdischen Volkes. Das ist absurd, ja fast beleidigend für alle Israelis. Und es ist ernsthaft kaum anders erklärbar als mit dem Mangel an Mut, auch heiße Eisen der jüdischen Geschichte anzupacken. Hätte die Serie dies gewagt, wäre sie vielleicht Gefahr gelaufen, in die Kritik zu geraten und weniger Lob von Charlotte Knobloch zu ernten. Das Wagnis, eine Kontroverse zu riskieren, sind die MacherInnen nicht eingegangen. Schade, so sind sie zu kurz gesprungen.