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Archiv-Artikel

Lasst euch nicht betören

Ein Hardliner auf lutherischer Seite war Paul Gerhardt. Aber auch ein Tröster im irdischen Leid. Eine Würdigung des großen Barockdichters

VON PHILIPP GESSLER

Man könnte sein Leben so zusammenfassen: Langzeitstudent aus der Provinz findet mit einigem Glück und Kontakten eine Stelle in Berlin, entpuppt sich als religiöser Fundamentalist, nervt die Staatsmacht, wird gefeuert und stirbt vereinsamt – wieder in der Provinz.

Mit seinem Werk jedoch ist man nicht so schnell fertig. Seine Verse bewegen sich zwischen allergrößtem Leid und leichter Freude, zwischen Vertrauen und Verzweiflung. Nun ja, einige muten merkwürdig an. Wie etwa, wenn er die Hausfrau lobt („Die Woll und Flachs sind ihre Lust“), platte Gebrauchslyrik absondert („Herr Fromm ist fromm, das weiß man wohl“) oder Verse schreibt, die heute unfreiwillig komisch klingen: „Die Wiesen liegen hart dabei / Und klingen ganz vom Lustgeschrei / Der Schaf und ihrer Hirten.“

Paul Gerhardt, dessen Geburtstag sich am Montag zum 400. Mal jährt, hat eine weltweite Wirkung gehabt wie nur wenige andere Poeten: Gerhardts Strophen haben die Zeiten überdauert, weil in ihnen sowohl Überzeitliches wie Modernes schwingt.

„O Haupt voll Blut und Wunden“ und „Befiehl du deine Wege“ hat Johann Sebastian Bach in seiner ewig jungen „Matthäus-Passion“ zu Weltruhm gebracht. „Wenn ich einmal soll scheiden, / So scheide nicht von mir; / Wenn ich den Tod soll leiden, / So tritt du dann herfür. / Wann mir am allerbängsten / Wird um das Herze sein, / So reiß mich aus den Ängsten / Kraft deiner Angst und Pein.“ Sie fassen die Einsamkeit des Sterbens und die Angst vor dem Tod, getragen von Bachs Musik, auf erschütternde Art und Weise.

Viel leichter – und ähnlich bekannt – ist Gerhardts Sommergedicht „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Es ist eines der schönsten Naturgedichte deutscher Sprache und ein Lobpreis Gottes fast nebenher. So sind Gerhardts Gedichte Volkslieder geworden, die universell verstanden werden: Sie wurden in viele Sprachen übersetzt – nicht nur in europäische, sondern auch in afrikanische und asiatische.

Der lutherische Pastor und Theologe Gerhardt hat die deutsche Poesie revolutioniert: Seine Lieder stehen nach Ansicht vieler Germanisten am Anfang der neuzeitlichen deutschen Lyrik. Ein Gedicht („David sang in seiner Sprachen“) thematisiert diesen Umbruch sogar, eine Zeile lautet da: „Deutsch zwar singt er, aber schön.“ Vor allem aber gehört Gerhardt nach Luther und Bach zum Kern des (deutschen) Protestantismus. Wenn Bach in diesen Kreisen manchmal der „fünfte Evangelist“ genannt wird, so könnte Gerhardt als der sechste durchgehen.

Gerhardts Lieder sind aus der Kirche Luthers so wenig wegzudenken wie der Posaunenchor. Und es ist kein Zufall, dass gerade heute, da sich die Evangelische Kirche in Deutschland nach neuen Wegen umschaut und ihre Wurzeln sucht, Gerhardt im Protestantismus, vor allem in diesem Jahr, wieder stark wahrgenommen wird. Die EKD hat ein „Paul-Gerhardt-Jahr“ ausgerufen und, mit Hilfe der Zeitschrift Chrismon, ein Webportal erstellt (www.paul-gerhardt-jahr.de). Es gibt etwas zu feiern – und das wird dann auch ausgiebig getan.

Dabei zögert man etwas, in Zusammenhang mit Paul Gerhardt von Feiern zu reden, denn in seinem Leben gab es wenig zu feiern. Das gilt schon für seine Jugend, die geprägt war von den traumatischen Erlebnissen des Dreißigjährigen Krieges, der gerade in seiner Heimat, in Kursachsen, ganz besonders schlimm wütete. Paul Gerhardt wird geboren in recht begüterte Verhältnisse, sein Vater ist Gastwirt, seine Mutter die Tochter eines Superintendenten. Seine sechsköpfige Familie lebt im Ackerbürgerstädtchen Gräfenhainichen, zwischen Wittenberg und Bitterfeld gelegen. Die Schrecken des Krieges, Hunger, Pest und eine marodierende Soldateska, erlebt Gerhardt früh, 1619 stirbt sein Vater, 1621 seine Mutter, mit knapp 14 Jahren ist Gerhardt Vollwaise.

Sein Glück ist, dass er ein Jahr später auf der Fürstenschule St. Augustin in Grimma aufgenommen wird. Es ist die strenge Kaderschmiede des Kurfürsten, hier wird der geistliche und weltliche Nachwuchs Sachsens herangezüchtet. Er lernt mit Fleiß die alten Sprachen, die neue lutherische Theologie, aber auch Rhetorik, Dialektik, Musik und: Poetik.

Nach bestandener Abschlussprüfung fängt Gerhardt mit zwanzig Jahren mit dem Studium der Theologie in Wittenberg, der früheren Wirkungsstätte Luthers. Gerhardt ist einer von sechshundert Studenten. Er studiert hier 15 Jahre und beendet das Studium ohne Abschluss – warum, ist nicht klar. Die letzten Jahre seiner Studienzeit ist er, wohl aus Geldmangel, Hauslehrer im Hause des Wittenberger Stadtkirchenpfarrers August Fleischhauer.

Paul Gerhardt erlebt, wie die Pest 1636/37 in Wittenberg wütet – es ist eine Schreckenszeit für ihn: 1637 stirbt auch sein älterer Bruder, im selben Jahr wird seine Heimatstadt Gräfenhainichen fast vollständig von schwedischen Soldaten zerstört.

Fünf Jahre später, noch in Wittenberg, verfasst Gerhardt sein erstes Gedicht. Es ist ein Glückwunschgedicht zu einer Hochzeit – die Braut Sabina Fromm, deren Mann schon oben erwähnt wurde, wird später seine Schwägerin und kümmerte sich schließlich um ihn, als er am Ende seines Lebens als Witwer in Lübben wohnte, im Haus ihres Vaters, des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold. In Lübben findet er 1643 auch eine Anstellung, wieder als Hauslehrer. Gerhardt nennt sich immer noch „Studiosus“, und das mit 36 Jahren! In der brandenburgischen Residenzstadt, die vor dem Krieg noch 12.000 Einwohner hatte, leben jetzt nur noch etwa 5.000 Bürger – aber die schlimmste Zeit ist nun vorbei, auch für Gerhardt. Er lernt den Kantor der Berliner Nikolaikirche, Johann Crüger (1598–1662), kennen. Es wächst eine lebenslange Freundschaft – Crüger ist es auch, der die ersten Gedichte Gerhardts vertont und mit anderen geistlichen Liedern herausgibt. Crüger ist nicht ohne Gerhardt, Gerhardt nicht ohne Crüger denkbar.

Die Lieder sind populär, Gerhardt ist als Dichter bald in aller Munde, in vielen Kirchen werden seine Lieder gesungen. Auch deshalb wird er nach Mittenwalde als Pfarrer für die dortige Moritzkirche empfohlen. Im November 1651, mit 44 Jahren, hat er endlich eine feste Anstellung als Pfarrer. Jetzt hat er auch genug Geld, um eine Familie zu gründen. Mit 48 Jahren, damals galt das als sehr alt, heiratet er 1655 Anna Maria Berthold, die auch schon 33 Jahre alt ist. Dem Paar werden fünf Kinder geboren – doch nur eines von ihnen, Paul Friedrich (1662–1716), wird erwachsen, alle anderen sterben schon im ersten Lebensjahr.

Anrührend sind die Trostlieder, die Paul Gehrhardt für die Eltern früh verstorbener Kinder geschrieben hat. Die Trauergedichte bündeln den Schmerz, der selbst erlebte Verlust schimmert aus jeder Zeile. Wie sehr Gerhardt und seine Frau gelitten haben, wird aber vor allem an der Gedenktafel für Maria Elisabeth in der Mittenwalder Kirche deutlich – die erste Tochter der Gerhardts starb schon nach einem halben Jahr. Eine Tafel wie diese war in Zeiten hoher Kindersterblichkeit eher unüblich. Das Epitaph für das „vielliebe Töchterlein“ endet mit einem düsteren Spruch aus dem Buch Genesis (47,9): „Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens.“

Im Jahr 1657 schließlich gelingt Gerhardt der entscheidende Karrieresprung, er wird Diakon an der Nikolaikirche in Berlin. Doch was der Höhepunkt seines Lebens zu sein scheint, endet mit einem Desaster. Das Herrschergeschlecht der Hohenzollern war zum kalvinistischen (reformiertem) Bekenntnis übergetreten, seine Untertanen aber blieben in der Regel Lutheraner. Der Kurfürst umgibt sich bald mit anderen Reformierten, viele von ihnen Experten oder Intellektuelle aus anderen europäischen Staaten. So wird die alte lutherische Elite nach und nach ausgebootet, weshalb sie gern über die Reformierten auch von der Kanzel herab herzieht. Dem Kurfürsten aber geht es um den Konfessionsfrieden im eigenen Land, weshalb er die gegenseitigen Lästereien, ja Verdammungen abzustellen sucht.

Kurfürst Friedrich Wilhelm organisiert 1662/63 ein Glaubensgespräch zwischen Reformierten und Lutheranern – Gerhardt ist ebenfalls dabei. Auch wenn dies in seinen Liedern selbst kaum deutlich wird, ist Gerhardt ein Hardliner, dem allerdings – anders als Luther – judenfeindliche Tendenzen fremd sind. Er stellt fest, die Reformierten könnten nicht als „Mitchristen und Mitbrüder“ bezeichnet werden. Das Gespräch scheitert, und nach einigem Hin und Her hat der Kurfürst genug. Er zwingt alle Geistlichen seines Territoriums, der jeweils anderen Konfession schriftlich Toleranz zuzusichern. Andernfalls würden sie des Amtes enthoben oder des Landes verwiesen. Gerhardt weigert sich, ein entsprechendes Revers zu unterschreiben. Er wird entlassen, aber aufgrund des Drucks des Berliner Magistrats und der Landstände 1667 wieder eingesetzt. Es werden ihm goldene Brücken gebaut, aber er weigert sich weiter, klein beizugeben. Er könne den kurfürstlichen Toleranzedikten ohne Verletzung seines „armen Gewißens nicht genüge thun“, erklärt er. 1668 ist er seine Stelle endgültig los, im selben Jahr stirbt seine Frau.

Mit 61 Jahren ist Gerhardt plötzlich ohne Einkommen, sein ihm als einziges verbliebenes Kind ist fünf Jahre alt. Da erhält er aufgrund der Hilfe von Freunden eine letzte Chance. Er kann Archidiakon in Lübben werden. Gerhardt streitet noch um die Renovierung seines neuen Pfarrhauses, die Befreiung von der Pestseelsorge und den Bezug von auswärtigem Bier (!), dann tritt er 1669 die Stelle endlich an. Seine Schwägerin, die mitkommt und sich um seinen Sohn kümmert, stirbt bald, ebenso seine Schwester. Gerhardt wird bitterer und stiller. Offenbar nur noch ein Gedicht, ein ziemlich schlechtes, hat er in seinen letzten acht Jahren im Spreewaldstädtchen verfasst.

Das Testament Gerhardts zeigt einen trübsinnigen, aber frommen Mann, der sich eine „fröhliche Abfahrt“ wünscht und bilanziert, sein Beruf habe ihm „nur wenig gute Tage“ gebracht. Seinem Sohn empfiehlt er gleichwohl das Theologiestudium, allerdings an „unverfälschten Universitäten“ – und in Acht nehmen solle er sich vor, wie er polemisch sagt, „Syncretisten“, also denen, die ein gemeinsames Bekenntnis von Lutheranern und Reformierten anstreben.

Gerhardt soll in seiner Sterbestunde am 27. Mai 1676 ein eigenes Lied gehört haben: „Kann uns doch kein Tod nicht töten, / sondern reißt unseren Geist aus vieltausend Nöten“, so dessen bekannteste Zeilen.

Gerhardts Gedichte, die ihre Kraft vor allem im Gesang entfalten, wirken fort, weil sie in einer scheinbar schlichten Sprache Worte des Trosts in existenziellen Situationen finden. Trotz eines heute eher frömmelnd wirkenden Duktus weicht Gerhardt nicht den Grenzerfahrungen des Menschen wie Einsamkeit, Krankheit, Krieg und Tod aus. Er klagt Gott in manchen seiner Lieder an, beklagt seine Ferne, thematisiert das mögliche Scheitern aller Mühen, ja des gesamten Lebens – und gibt trotz allem Hoffnung. Dass Gerhardt, dem frommen Dickkopf, diese Hoffnung nicht verging trotz all des Leids in seinem Leben, ist vielleicht das eigentliche Wunder seiner Dichtung.

Paul Gerhardt: „Geh aus, mein Herz. Sämtliche deutsche Lieder“. Illustrationen von Egbert Herfurth. Herausgegeben von Reinhard Mawick. Mit einer Einführung von Inge Mager. Leipzig 2006, 271 Seiten, 35 Euro Petra Bahr: „Paul Gerhardt. ‚Geh aus, mein Herz …‘ Leben und Wirkung“. Freiburg 2007, 143 Seiten, 8,90 Euro PHILIPP GESSLER, 40, ist Redakteur im Schwerpunkt-Ressort der taz