: Hüter der Bäume
Eine moderne Handwerkskunst im großstädtischen Umfeld: Baumpfleger klettern in luftige Wipfel und sorgen dafür, dass die menschengemachte Umwelt nicht zur Gefährdung wird. Dabei müssen sie abwägen zwischen Risiko und Notwendigkeit
von Mart-Jan Knoche
Die Populus nigra Italica ragt hoch ins klare Blau des Stadthimmels. Fast dreißig Meter hoch, umringt von backsteinernen Häuserblöcken und tief verwurzelt in der Erde eines Hinterhofgartens in Hamburg-Altona steht die Pyramidenpappel da wie ein fabelhaftes Riesenwesen, wie eine lebende Säule. Dichtes Efeu umrankt ihren dunklen Stamm, der sich in Bodennähe stark verzweigt und sein Astwerk bis in die Krone straff aufwärts richtet.
„Sechzig Jahre steht die Pappel schon an diesem Platz“, sagt der Baumpfleger Lutz Hoffmann, der den Baum vom Rasen aus betrachtet. „Nach dem Krieg pflanzten die Menschen gerne diese Baumart, denn sie ist ein schneller Lufteroberer. Innerhalb kürzester Zeit bildet sie riesige Kronen und Holzmengen.“ Die Kurzlebigkeit jedoch, mit der der Organismus für seinen rasanten Wuchs bezahlt, bedachte man damals nicht. Damals, die Trümmer vor Augen, ging es um einen zügigen Wiederaufbau – auch der zerstörten Stadtnatur. Nun, da die alte Pappel stirbt, wurde Hoffmanns Firma Astwerk herbeigerufen.
Der Fachagrarwirt Hoffmann ist Handwerker, zur Deutung seiner Arbeit aber bedient er sich der Philosophie. „Der Stadtbaum ist unsere Erinnerung an die Natur, das größte sichtbare Wesen, das sie versinnbildlicht.“ In seinen Siedlungskonzepten schaffe sich der Mensch seine Natur selbst, domestiziere sie, um von ihrer beruhigenden Kraft zu profitieren. „Der Baumpfleger betrachtet einen Zoo“, sagt Hoffmann. „Wir sind gewissermaßen die Wärter und Pfleger.“
Die Bäume in unseren Städten sind gezüchtet und planmäßig gepflanzt, jeder einzelne wird erfasst und der Bestand per Computer verwaltet. Eingriffe sind unvermeidlich. Die zuständigen Behörden fällen Entscheidungen über Pflegemaßnahmen nach formalen, oft ganz ökonomischen Gesichtspunkten. Baumsanierung heißt das im Beamtenjargon. Unter den Baumpflegern hingegen, die mit Seilen in die Kronen klettern, sägen, schneiden, stutzen und erleben, wie der Baum auf ihre Eingriffe reagiert, spüren, wie er wächst, gesundet oder stirbt, unter diesen Kletterern entwickeln viele eine tiefe Beziehung zu ihrer Arbeit und zu den Bäumen.
„Alte Bäume werden oft viel zu früh weggenommen.“ Lutz Hoffmann sieht sich und seine Zunft auch als „Anwalt der Bäume“ – gegenüber den Interessen von Stadt und Bürgern. Aus Kostengründen entschieden die Behörden oft, Bäume zu fällen, erzählt Hoffmann. „Dabei hat nur eine neue Altersphase begonnen.“ Der Zerfall als natürlicher Teil des Lebens gerate in Vergessenheit.
Oft lehne er Aufträge auch ab, sagt Hoffmann. Ein Baumpfleger müsse immerzu abwägen, zwischen Risiko und Notwendigkeit sei der Erhalt des Baums das Ziel. „Es ist ein anspruchsvoller Beruf.“ Leider gebe es bislang keine staatliche Ausbildung, trotz der großen Nachfrage. „Lobbyisten in den Wirtschaftsverbänden verhindern das“, sagt Hoffmann. Vor allem die Gärtner fürchteten um ihr Wintergeschäft.
Die Überzeugung, dass mehr als nur das Bedienen einer Motorsäge und Gärtnergrundkenntnisse dazugehören, um in die komplexe Physiologie eines Baums eingreifen zu dürfen, will Lutz Hoffmann weitergeben. „Das genaue Wissen um die unterschiedlichen Lebensphasen eines Baumes begründet unsere Pflegemaßnahmen.“
Die alte Pyramidenpappel in Altona verfällt von oben her. „Rückwärtswachsen“ nennt Hoffmann das: Die Regenerationsfähigkeit des Baumes nimmt ab, auf Hitze und Kälte reagiert er empfindlicher. Bei Eichen dauert dieser Prozess Jahrhunderte, bei der Pappel ist auch diese Lebensphase nur sehr kurz. Zudem entwerfe diese Art eine riskante Statik, sagt Hoffmann. Bei Sturm werfe sie längere Äste schon mal ab, um die Windangriffsfläche zu reduzieren. Große morsche und brüchige Äste drohten nun hinabzustürzen. Um die Sicherheit in dem Garten wiederherzustellen, schneidet das Baumkletterteam sterbendes Holz aus der Krone. „So ist die Pappel noch zwanzig Jahre erhaltbar“, sagt Hoffmann – wenn sie gepflegt wird. In fünf Jahren also werden sie sich wiedersehen, Populus nigra Italica und der philosophierende Baumpfleger.