: Die Dicke von Schelklingen
FUNDE Die ältesten Kunstwerke der Menschheit wurden auf der Schwäbischen Alb ausgegraben
■ Museen: Im Urgeschichtlichen Museum (Urmu) im Zentrum von Blaubeuern steht unter anderem die Venus vom Hohlen Fels. Die weltweit einmaligen Kunstfunde von der Schwäbischen Alb werden in Schatzkammern thematisch vorgestellt. Sie eröffnen einen Zugang zur geheimnisvollen Eiszeitkunst. www.urmu.de und Museumsgesellschaft Schelklingen www.museum-schelklingen.de. Im Museum Ulm steht der Löwenmensch. Er wurde am 25. August 1939 bei den Ausgrabungen von Otto Völzing (1910–2001) und Robert Wetzel (1898–1962) in der Stadel-Höhle am Hohlenstein auf der Mittleren Schwäbischen Alb entdeckt, in seiner Bedeutung aber erst 30 Jahre später erkannt. www.loewenmensch.de
■ Der Park: Archäopark Vogelherd in Niederstrotzingen mit Vogelherdhöhle, Stationen, Infocenter und Führungen www.archaeopark-vogelherd.de
■ Die Täler: Zwei Höhlen im Tal der Lone, zwei Höhlen im Achtal – und rund vierzig, meist nur fragmentarisch erhaltene Kleinplastiken aus Mammutelfenbein von diesen Fundplätzen: das ist bisher die „künstlerische“ Bilanz der archäologischen Forschungen in den Höhlen der Mittleren Schwäbischen Alb. Im Unterschied zum Löwenmenschen als mit Abstand größter Plastik sind diese Figuren nur wenige Zentimeter groß. Sie sind vollplastisch, halbrund oder als Relief gearbeitet und stellen in der Regel Tiere dar, die während der letzten Eiszeit auf der Schwäbischen Alb lebten. www.schwaebischealb.de
■ Wanderführer: Hermann Häußler führt auf den Spuren der Steinzeit durch das Lonetal. Er bietet Touren mit dem Rad, Segway oder zu Fuß an: lonetaltour.de
■ Höhlen Frankreich: Die Höhle von Lascaux im französischen Département Dordogne enthält einige der ältesten bekannten abbildenden Kunstwerke der Menschheitsgeschichte. Ihre Höhlenmalereien lassen sich der frankokantabrischen Höhlenkunst zuordnen. Die Höhlenmalereien werden dem Zeitraum von 17.000 bis 15.000 v. Chr. zugerechnet, das ist wesentlich später als die Kunst aus Süddeutschland.
■ Höhlen in Spanien: Die Höhlenmalerei von Altamira in Kantabrien entstand 16.000 v. Chr. Die Höhle ist seit 1979 nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich, da durch die warme Atemluft der Besucher schwere Schäden entstanden und durch die neu angebrachten Holzgeländer die Malereien zu schimmeln anfingen. Nachbildungen im Museum: museodealtamira.mcu.es
VON EDITH KRESTA
Sie stehen genau dort, wo die Venus vom Hohle Fels gefunden wurde“, sagt Professor Nicholas Conard, Inhaber des Lehrstuhls für Ältere Vorgeschichte in Tübingen. Ich schaue auf den Berg weißer Sandsäcke, auf dem ich in der 9 Grad kalten ausgeleuchteten Höhle stehe, bei 30 Grad Außentemperatur. Die Säcke stabilisieren und stützen die Höhlenwände nach Grabungen. Professor Conard und seine Studenten graben auch in diesem Sommer sechs Wochen am Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb. Sie graben tief in die Vergangenheit. Schicht für Schicht suchen sie nach Zeugnissen von damals. Damals, vor rund 40.000 Jahren als der Neandertaler ausstarb und der moderne Mensch, der Homo sapiens, aus Afrika kommend, Mammuts, Höhlenlöwen, Höhlenbären und Säbelzahntiger jagte. Draußen an dem Bächlein der Ach im Urstromtal der Donau wird die in blaue Eimer abgefüllte ausgebuddelte Erde geschlämmt, das heißt gewaschen, nach Herkunftstiefe abgepackt, später dann im Labor akribisch unter die Lupe genommen.
Der Hohle Fels bei Schelklingen besteht aus einer großen Felshalle. Wann immer in den letzten Jahren irgendwelche archäologischen Sensationsmeldungen durch die Presse gingen, stammten sie entweder vom Hohle Fels und dem Geißenklösterle aus dem Blaubeurer Urdonautal oder aus den Höhlen des etwas nördlicheren Lonetals.
„Es sind Sensationsfunde. Hier auf der Schwäbischen Alb wurden die ältesten Kunstwerke der Menschheit gefunden“, schwärmt Professor Conard. Neben der „Venus vom Hohle Fels“, die Conard 2008 in der Karsthöhle bei Schelklingen fand, gehört dazu das 3,7 Zentimeter kleine Mammut aus Elfenbein, das Conards Crew 2007 in der Vogelherdhöhle im Lonetal ausgrub. „Die Funde von der Schwäbischen Alb sind ein Aushängeschild für Deutschland“, sagt der Professor. Die Höhlen und ihre Funde sollen, wenn auch die Gemeinden sich einig sind und dezente Toilettenhäuschen finanzieren, Weltkulturerbe werden.
Verwitterte Steinkegel ragen aus Laubwäldern empor, schroffe Kalkfelsen stehen unerwartet in der Landschaft. Darüber wölbt sich ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Mag die Gegend um Schelkling und Blaubeuren auch reizvoll grün und ländlich schön sein, es kostet Mühe, sich in der saturierten, wurstsalat- und spätzleverwöhnten schwäbischen Provinz von heute herumziehende Mammutjäger von damals vorzustellen. Denn außer den unspektakulären Höhlen, kalten Löchern im Kalkstein, bekommt der Besucher nicht viel zu sehen auf den Spuren der Steinzeit. Um sich begeistern zu können, braucht er Fantasie, aber vor allem Wissen, an dem sie sich entzünden kann.
Wir holen uns etwas davon im Urgeschichtlichen Museum im acht Kilometer entfernten Blaubeuren. Dort steht sie in ausladender Pracht. die Venus vom Hohle Fels, auch die „Dicke von Schelklingen“ genannt. Sie wurde aus einem Mammutstoßzahn mit Feuerstein geschnitzt. Ihre Brüste sind üppig und ragen weit nach vorn. Das Schamdreieck mit der offenen Vulva ist deutlich zu erkennen. Der Bauch ist rund. „Sie signalisiert Weiblichkeit und Sexualität“, sagt Johannes Wiedmann, Dozent am Museum. Eine Mama: prall, üppig, voluminös, nährend. Mama heißt auch der Raum, in dem sie dezent beleuchtet steht.
Wiedmann führt uns durch das informative, frisch renovierte Museum. In den Vitrinen liegen kleine Elfenbeinfiguren. Pferde, Mammuts, Löwenköpfe. Funde aus den in der Nähe liegenden Höhlen, meist Tiernachbildungen, aber auch die berühmten Flöten. „Es sind die weltweit ältesten nachgewiesenen Musikinstrumente: Flöten aus Schwanenflügelknochen, aus Gänsegeierknochen und aus Mammutelfenbein. Keines der Instrumente ist vollständig erhalten“, sagt Wiedmann. Doch ihr Klang kann per Knopfdruck abgerufen werden, er wurde rekonstruiert. Steinzeitmusik, sinnlich erfahrbar!
Im Museum von Ulm, rund 20 Kilometer nördlich von Blaubeuren, steht ein anderer Sensationsfund von der Schwäbischen Alb: der Löwenmensch. Eine aufrecht stehende Gestalt mit tierischen und menschlichen Merkmalen. Radiokarbondatierungen an Tierknochen aus der Umgebung der Fundstelle konnten das Alter der Figur auf rund 32.000 Jahre bestimmen „Die Leute sind immer enttäuscht, wenn sie davorstehen. Sie erwarten eine viel größere Figur und nicht diese filigrane Schnitzerei aus Elfenbein“, sagt Kurt Wehrberger, Archäologe am Ulmer Museum. „Dabei ist der Löwenmensch mit seinen 31,1 Zentimetern von der Größe her der absolute Ausreißer in der Eiszeitkunst. Die anderen gefundenen Figuren sind wesentlich kleiner.“
Die menschliche Figur mit Löwenkopf, dieses Mischwesen, ist eine sensationelle Entdeckung, ein magischer Fund. Die Figur sei möglicherweise ein Hinweis auf schamanistische Praktiken bei den Jägern der Eiszeit. „Vielleicht handelt es sich um eine mythologische Gestalt, die in dieser Region verehrt wurde.“
Über Jahrzehnte hinweg wurde der Löwenmensch aus über 200 Einzelteilen rekonstruiert. Gefunden wurde er ursprünglich am 25. August 1939 bei den Ausgrabungen von Otto Völzing und Robert Wetzel im Hohlenstein-Stadel im Lonetal. Seine wirkliche Bedeutung wurde jedoch erst 30 Jahre später im Ulmer Museum entdeckt. Nach dem Auffinden und Anpassen weiterer Fragmente vor allem des Kopfes und des zweiten Armes konnte die Statuette 1988 restauriert werden. So steht sie nun hier. Nur das Geschlecht des Löwenmenschen sei immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. „Das sind auch ideologische Auseinandersetzungen über die Stellung der Frau in altsteinzeitlichen Gesellschaften“, weiß Wehrberger.
Ob Männlein, Weiblein, Transvestit, sicher ist: „Die Statuette vom Hohlenstein-Stadel ist die mit Abstand größte und spektakulärste Figur dieses Ensembles ältester beweglicher Kunst der Menschheit aus dem Zeitraum vor 30.000 bis 40. 000 Jahren“, sagt Wehrberger.
Der Löwenmensch regt die Fantasie an. Auf der Fahrt ins Lonetal machen wir uns so unsere Gedanken: Stellten die JägerInnen der Eissteinzeit bereits Überlegungen zum Himmel über ihnen an? War ihnen langweilig, dass sie niedliche Figuren schnitzten? Und wie passten den Nazis diese einmaligen Funde ins Konzept ihres germanischen Herrenmenschentums?
Der Archäopark Vogelherd versucht, einige Antworten zum Aurignacien, der Kultur der Eissteinzeit, zu geben: „Wie erlegt man ein Mammut? Was konnte man aus einem Tier gewinnen? Wie funktioniert eine Speerschleuder? Und woraus sind die ältesten Kunstwerke der Menschheit gemacht? Es gibt fünf Stationen. Die Besucher können mit Pferdeknochen Feuer machen, Zelte mit Tierhäuten beziehen, mit Wurfspeeren auf große Pappmammuts werfen. Sie können Tierspuren lesen – und anhand von Abdrücken und Kot raten, welche Tiere im Lonetal gelebt haben. 30 Guides wurden vom Institut für Frühgeschichte an der Uni Tübingen ausgebildet. Sie begleiten die Besucher, erklären die Geschichte und erzählen Geschichten aus der Steinzeit.
Im Archäo-Shop mit Restaurant gibt es Rossfeuersteak à la Aurignacien – Pferdesteak nach Steinzeitart mit Wacholder und Kräutern. „Der Park wird gut angenommen“, sagt Patricia Friderich, Leiterin des Archäoparks Vogelherd. Schon im ersten Jahr der Eröffnung waren 50.000 Besucher hier.“ Steinzeit zum Anfassen und Essen? „Ja, aber man braucht auch viel Fingerspitzengefühl, um das Konzept nicht zu überfrachten und lebendig zu halten“, sagt die junge Chefin des Parks bei einem Auric Royal, Prosecco mit Waldbeerensirup.
Ein Mammut aus Elfenbein ist der Star. Es steht nun im Ausstellungsraum des Parks und stammt von hier, aus der Vogelherdhöhle. Diese liegt strategisch ideal auf einem Sporn, 20 Höhenmeter oberhalb der Lone im Archäoparkgelände. Sie eröffnet einen perfekten 180-Grad-Blick über den Talverlauf.
Nur etwa drei Kilometer von hier entfernt liegt das Hohenstein-Stadel, wo der Löwenmensch gefunden wurde. Es ist eine idyllische Wanderung dorthin auf dem gut ausgeschilderten Neandertalerweg. Hermann Häußler ist passionierter Wanderführer auf den Spuren der Steinzeit. Er begleitet uns. Seit seiner Jugend faszinieren ihn die Höhlen im Lonetal. Er ist darin herumgeklettert, seine Fantasie wurde dort entflammt. Die Steinzeit, das merken seine Zuhörer sofort, ist seine Leidenschaft. Er kann, wie unsere anderen Gesprächspartner auch, nicht verstehen, dass selbst Menschen aus der Umgebung noch nie etwas von den Schätzen, der kulturellen Bedeutung der Funde hier auf der Schwäbischen Alb gehört haben. „Sicher sind die Höhlenmalereien in Südfrankreich oder Spanien zunächst spektakulärer, leichter konsumierbar, aber die Dicke von Schelklingen oder der Löwenmensch, das ist was ganz Spezielles! Die erste Kunst“, sagt er.
Er zieht eine Nachbildung der Dicken, die man mit einer Hand umfassen kann, aus dem Rucksack. Die Öse an der Figur weist drauf hin, dass sie als Talisman um den Hals getragen wurde. Für den heutigen Geschmack etwas unförmig, zu Fellkleid aber möglicherweise schick.