ÜBER JAPANISCHEN STOIZISMUS UND CHINESISCHE DEKONSTRUKTION
: Fernost-Projektionen

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ARAM LINTZEL

Der Exotismus hat viele Gesichter. Während der japanischen Erdbebenkatastrophe wurden in Kommentaren wiederholt „Gelassenheit“ und „Disziplin“ der Japaner bewundert. „Stolz, diszipliniert, leidensfähig, selbstlos“, titelte etwa der Stern auf dem Cover über „Das unglaubliche Volk“. Ins authentische Mitgefühl mischte sich die Faszination für das fremde Wesen des Japaners, der ja traditionell ein beliebtes Objekt für derartige Projektionen ist. Zu welch beeindruckender Ich-Kontrolle die doch fähig sind!

Es ergab sich eine vielsagende Kipp-Projektion: Der sogenannte „Ferne Osten“ steht zugleich für Turboismus und Stoizismus, für Beschleunigung und Entschleunigung. Mal haben wir vorauseilend Panik zu schieben – wegen der „wilden Globalisierung“, die von China her drohe – mal soll sich unsere nervöse Subjektivität an der japanischen Ruhe im Angesicht der Katastrophe ein Vorbild nehmen. Der Ferne Osten: Problem und Lösung in einem.

Was findet der doppelt Faszinierte wirklich am Ende seiner Reise ins Innere des Asiatischen? Nichts, wenn man dem südkoreanischen Philosophen Han Byung-Chul glauben will. Denn jede Idee von Tiefe und Innerlichkeit sei dem fernöstlichen Denken völlig fremd. In seinem neuen Buch „Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch“ untersucht Han die „besondere Spielart der Kreativität“, die in China seit Urzeiten am Werk sei. In ihr gebe es nicht den für die westliche Mentalität typischen „Kult der Originalität“, an die Stelle des Originals trete die ständige Wandlung.

Subversion des Originals

Die Kopie werde in einer „totalen Inversion des Verhältnisses zwischen Original und Kopie“ selbst zum Original, Shanzhai ist der Begriff für diese kreative Kopier-Kultur. Kreation gehe hier mit der Subversion des Originals Hand in Hand, Han spricht im Neo-Heidegger-Slang auch von „Ent-Schöpfung“ und meint damit Phänomene wie Harry-Potter-Fakes, die das Original transformierend fortführen.“

Während im Shanzhai Kreation und Subversion zusammengehören, bilden im zeitgenössischen Kapitalismus Kreation und Depression zwei Seiten derselben Münze. In dem kürzlich von Juliane Rebentisch und Christoph Menke herausgegebenen Reader „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ philosophieren Autoren wie Luc Boltanski, Robert Pfaller oder Axel Honneth über den „Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung“. Dieser macht bekanntlich krank. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg diagnostiziert genauer eine „Pathologie der Größe“, die dadurch hervorgerufen werde, dass heute jeder autonom sein muss.

Der chinesische Verzicht auf Originalität klingt in dieser Situation wie ein Entlastungsversprechen. An die Stelle der „Zumutungen des kreativen Imperativs“ (Ulrich Bröckling in „Kreation und Depression“) tritt in der chinesischen Kultur laut Han eine Feier der Leere: „Je größer ein Meister ist, desto leerer ist sein Oeuvre.“ Das chinesische Denken als Exitstrategie? Der Theaterregisseur René Pollesch findet in „Kreation und Depression“ den Ausweg ganz woanders, nämlich beim „alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“. Denn der „kann keine Geschichte erzählen einer Selbstverwirklichung. Dessen Selbst bleibt völlig unausgedrückt.“

Byung-Chul Han kommt allerdings nicht ohne einen postmodern verbrämten Essentialismus aus, wenn er in einer interessanten Wendung den Antiessentialismus des Shanzhai zum Wesen des Fernöstlichen erklärt. Auch ist seine einfache Gegenüberstellung von europäischer Tiefe und fernöstlicher Flachheit fragwürdig. Neuere Vorstellungen einer flachen „Netzwerk-Kreativität“ (Tom Holert untersucht sie in „Kreation und Depression“) kommen ohne einen „Kult der Originalität“ aus, obwohl ihre Fürsprecher keine Asiaten sind. Trotz der Mängel legt Han aber mindestens eine steile These vor.

Zu seinem Geschichtsbild gehört ein gewagtes Phasenmodell, er schreibt: „Mit der Zeit mutiert der chinesische Shanzhai-Kommunismus womöglich zu einer Politikform, die man durchaus Shanzhai-Demokratie nennen könnte, zumal die Shanzhai-Bewegung antiautoritäre, subversive Energien freisetzt.“ Ob in der nachgemachten Shanzhai-Demokratie das allgegenwärtige Kreativitätsregime außer Kraft gesetzt sein wird? Je nachdem hätten sich die Kritiker der kreativen Selbstverwirklichung zu fragen, ob sie die vom Fernen Osten ankommende Demokratie wollen können oder nicht.

■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin