: 3.000 Quadratmeter Kindheit
Ein Kind gehöre zur Mutter und die Mutter an den Herd – eine Antwort auf diese realitätsfernen CDU-Stimmen gegen den Ausbau von Kita-Plätzen gibt eine clevere Einrichtung in Berlin. Ein Besuch bei „Flohkiste“ und „Löwenzahn“
VON SIMONE SCHMOLLACK
Manchmal schaut sie einfach nur aus dem Fenster. Dann sieht sie in einen Garten und darin lärmende Kinder. Renate Schaaf aber hat nicht viel Zeit, ihren Blick schweifen zu lassen. Das Telefon klingelt, manchmal alle fünf Minuten. Einer ihrer Standardsätze lautet: „Dann kommen Sie doch vorbei.“ Die Anrufer sind Eltern, die für ihre Kinder einen Kita-Platz suchen. Renate Schaaf ist Leiterin der beiden nebeneinander liegenden Kindertagesstätten „Flohkiste“ und „Löwenzahn“ am Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg. Die Frau jongliert mit den Terminen. Ihr Kalender quillt über, bis Ende Mai ist sie komplett ausgebucht. Jetzt laufen die Anmeldungen auf einen Kita-Platz ab August 2008. Die Eltern wollen die Kindergärten und -krippen sehen, bevor sie ihre Töchter und Söhne dorthin geben.
Renate Schaaf ist eine forsche und flinke Frau, die rasend schnell spricht. Vermutlich will sie in kurzer Zeit viel sagen. Das hat sie in den vergangenen zwei Jahren begriffen, seit sie Chefin der Doppel-Kita ist: Zeit ist eine der wichtigsten Ressourcen.
Renate Schaaf unterstützt die Idee von Ursula von der Leyen (CDU), mehr Betreuungsmöglichkeiten zu schaffen. Aber sie kann über die Zahlen, die die Bundesfamilienministerin in die Runde geworfen hat, nur müde lächeln. Was sind schon 750.000 Krippenplätze? Für die gesamte Republik? Bis 2013? Würden die tatsächlich realisiert, stünden trotzdem noch zwei Drittel der Eltern ohne Betreuung da. Ginge es nach einem Großteil der CDU, also jenen Frauen und Männern, die im Gegensatz zu Ursula von der Leyen die Lebensrealität berufstätiger Eltern komplett ausgeblendet haben, sollen es nur 230.000 Plätze sein. Der Durchschnitt für die Betreuung von unter Dreijährigen liegt derzeit bei 13,5 Prozent. Das heißt, nicht einmal jedes fünfte Kind geht in eine Krippe. Berlin steht dabei noch einigermaßen gut da, hier liegt der Satz bei knapp 40 Prozent.
„Ein Drittel der Bewerbungen muss ich ablehnen“, sagt Renate Schaaf. Dabei ist ihre Einrichtung schon eine der größten in der Hauptstadt, jeweils 110 Plätze in jedem Haus, in jeweils fünf Gruppen, insgesamt 25 Erzieherinnen. Gewöhnlich sind Kitas für 30 bis 40 Kinder eingerichtet. Bei dieser Größe, heißt es, seien individuelle Betreuung und Nestwärme am besten möglich, nur so könnten die Stunden fernab von Mutter und Vater zum Familienersatz werden.
„Engelchen, wo hast du denn deine Hausschuhe hingeschmissen?“ Mario Mendelsohn hat seinem dreijährigen Sohn Anorak und die dicke Hose ausgezogen, vor fünf Minuten sind sie gekommen. Der Junge kriecht unter eine Bank und singt: „Wo bist du, blöder Schuh?“ Linus Otto ist drei, sein Bruder Lennart Karl fünf. Beide verbringen ihre Wochentage in der Kita „Löwenzahn“, meist von 9 bis 18 Uhr. „Anders geht es nicht“, sagt der Vater. Er ist Krankenpfleger im Schichtdienst, seine Frau studiert Sozialpädagogik. „Aber auch, wenn wir unsere Söhne zu Hause erziehen könnten, würden wir das nicht tun“, sagt der 42-Jährige.
„Die Betreuung hier ist pädagogisch sehr gut. Es wird gespielt und gelernt, die Erzieherinnen kümmern sich liebevoll und umfassend, es gibt einen großen Garten und oft Ausflüge.“ Auch die anderen Eltern scheinen zufrieden. Sie sagen Sätze wie: „Ich weiß meine Tochter hier gut aufgehoben.“ „Die Kita ist viel mehr als eine Aufbewahrungsanstalt, sie ist ein vertrauenswürdiger Ersatz für meine Abwesenheit.“ „Wir können uns einbringen.“ „Mein Kind lernt hier soziale Kompetenz.“ Dafür zahlen sie, je nach Einkommen, zwischen 16 und 405 Euro monatlich. Die Sätze sind im Kitakostenbeteiligungsgesetz festgelegt. Das Essen, das im Haus selbst gekocht wird, kostet 23 Euro.
Fragt man Linus, antwortet der: „Kita ist blöd, weil ich da immer meine Schuhe vermülle.“ Zehn Minuten später stürmt er mit Erzieherin Dayane Macha, 24, und den anderen Kindern seiner Gruppe lauthals in die Turnhalle. Seine Hausschuhe hat er längst vergessen. Einmal in der Woche wird intensiv Sport gemacht. Ballspielen, Laufen, Klettern, Toben. An anderen Tagen gibt es Tanzen, Englisch, Schwimmen, Musik, Zeichnen. Im letzten Kita-Jahr, dem sogenannten Vorschuljahr, das kostenlos und Pflicht für alle Kinder werden soll, lernen die Mädchen und Jungen erste Buchstaben, Zahlen und die Grundrechenarten. Es gibt regelmäßig Elterngespräche, gemeinsame Grill- und andere Feste, Ferienfahrten für die älteren Gruppen, Lampionumzüge. Die Erzieherinnen bekommen Fortbildungen, eine Psychologin kann zu Rate gezogen werden.
Die Eltern aus Prenzlauer Berg, die nach einem radikalen Bevölkerungsaustausch seit der Wende jetzt vorrangig aus Akademikern bestehen, haben bestimmte Vorstellungen davon, wie ihre Kinder aufwachsen sollen: individuell und in Gemeinschaft, spielend und mit altersgerechter Bildung, sportlich, musisch, gesund, ökologisch. Das sind ziemlich hohe Ansprüche.
Renate Schaaf ist keine Intellektuelle. Eher eine Frau, die das Leben begriffen hat und die sich nicht so leicht aus Bahn werfen lässt. Sie ist so etwas wie ein Kita-Profi, von 1975 an hat die 57-jährige Erzieherin das Haus „Löwenzahn“ geleitet. Das Konzept der heutigen Kita-Kombination, die unter einem Dach die Häuser „Flohkiste“ und „Löwenzahn“ beherbergt, kann sie im Schlaf herbeten. Seit Jahren hat sie daran gefeilt, zusammen mit ihren Kolleginnen und unter Einbeziehung der Eltern. „Uns geht es vor allem um den Situationsansatz“, sagt sie. Das heißt, „den Kinder das zu bieten, was sie auch sonst im Leben vorfinden“. Das schließt alternative Erziehungsmodelle nach Montessori, Waldorf und Reggio zu weiten Teilen aus.
Die Eltern, die vorrangig aus den alten Bundesländern kommen, begrüßen das. Sie erleben hier, dass sowohl rationale als auch sinnliche Erfahrung den gleichen Stellenwert genießen. Beim Projekt „Unsere Sinne“ füllen die Kinder u. a. Streichholzschachteln mit Düften: Rosen, Lavendel, Kaffee, Orangen. Sie ertasten Steine, Muscheln, Papier, sie erraten Töne und Stimmen, hören Musik und Hörspiele, sie malen, sie tanzen. Die Bildungs- und Erziehungsziele und die Art und Weise, wie diese vermittelt werden, können die Eltern an großen Tafel nachlesen, die im Flur hängen. Daneben Fotos, die zeigen, wie ihre Kinder die Sinne bewusst erfahren.
Die Eltern schätzen das. Sie wissen auch: „Wenn uns etwas nicht passt, können wir es sagen“, meint ein Vater, Soziologe. Renate Schaaf hakt ein: „An unseren Grundprinzipien lassen wir nicht rütteln. Sonst hätten wir jede Woche ein neues Leitbild.“
Die Kinder heißen Mia, Jimmy, Rosa, Aaron, Bobby, Marlene, Gil, Mila, Olson. Sie sind zwischen acht Monaten und sechs Jahren alt. Manche kamen hierher, als sie gerade mal drei Monate waren. Ihre Eltern sind Anwälte, Sozialwissenschaftler, Journalisten, Lehrer, Beamte, Naturwissenschaftler. Menschen, die in der Regel kritisch sind, vor allem, wenn es sich um die Betreuung ihrer Kinder dreht. Ginge es einzig darum, dass ihre Kinder untergebracht sind, könnte es auch jede andere Einrichtung sein. Aber die Mütter und Väter beanspruchen Qualität. „Wir wollen, dass unsere Eltern mitmachen“, sagt Renate Schaaf. Sie betont „unsere“. Was hier geschieht, ist eine Art Coop – zwischen Kita, Kindern, Eltern.
Da ist zum Beispiel der Garten. 3.000 Quadratmeter mit Sandbergen, wild bewachsenen Hügeln, Wasserstellen, Bau- und Matschspielplatz, Grillstelle. Dazwischen Schaukeln, Wippen, Kletter- und Laufgeräte – aus Naturstein, Holz und dicken Stricken. Für die Umgestaltung, die seit einem Jahr andauert und immer noch nicht ganz abgeschlossen ist, gab es ein wenig finanzielle Unterstützung vom Land, einige Sponsorengelder und viel Arbeit durch Eltern und Erzieherinnen. An den Wochenenden haben sie geschippt, gepflanzt, gebaut. „Immer dann, wenn wir Lust und Zeit hatten“, sagt der Vater von Nils. Überhaupt sind morgens und abends unvergleichlich viele Väter zu sehen. „Das Elternbild hat sich gewandelt“, sagt Erzieherin Manuela Bistry.
Die Kita-Kombi „Flohkiste“ und „Löwenzahn“ ist ein innovatives Projekt, von dem es eigentlich viel mehr bräuchte. Weil es eine adäquate Antwort auf die Veränderungen des Lebens und der Arbeitswelt ist, ein Beispiel dafür, wie der Anspruch von Frauen und Männern auf einen modernen Lebensentwurf – Vereinbarkeit von Familie und Beruf – verwirklicht werden kann.