: In der Duldung
AUS MÜNCHEN ADRIAN RENNER
Mohammed Hanils* Kampf gegen die Zeit beginnt morgens. Wenn seine Söhne zur Schule gegangen sind und er keinen Schlaf mehr findet. Dann fragt er sich, wie er und seine Frau durch den Tag kommen sollen, hier an diesem Ort, für den sie alles aufgegeben haben. Und wo alles anders ist, als sie es erwartet hatten.
Sein Blick schweift durch das Zimmer, in dem seine Familie wohnt. Über die beiden Metallbetten und den Sperrholzschrank, die zerschlissenen Sofas. Dann bleibt er am Fernseher hängen. Mohammed weiß, was passieren wird. Er wird aufstehen, den Fernseher anschalten, sich auf seinen Sessel links vom Tisch setzen, und die Nachrichten in den Laufzeilen unten am Bildschirm werden die gleichen sein wie an jedem anderen Tag: Tote, Verletzte, Krieg in Bagdad, im Irak. In seiner Heimat.
Fünf Jahre zuvor, im August 2002: Mohammed steht mit seiner Frau Sana und den drei Söhnen am Rand einer dunklen Nebenstraße nahe der kurdischen Grenze. Ein Lkw fährt heran, der Fahrer bremst, sie robben unter den Wagen, klettern durch ein Loch ins Innere. Zwei Rucksäcke haben sie dabei, gefüllt mit Keksen, Butter, Joghurt und Wasser, Proviant für zwanzig Tage. Versteckt zwischen Bananenkisten, durchqueren sie die Türkei, den Balkan. Zwischen den Kisten ist gerade so viel Platz, dass sich zwei zum Schlafen ausstrecken können. Alle zwei oder drei Tage hält der Fahrer nachts an, die Hanils können sich die Beine vertreten, den Eimer ausleeren, in den sie ihre Notdurft verrichten. Nach zwei Wochen stehen sie nachts in der Nähe eines Parks. Der Fahrer steigt in den Lkw, sagt, er hole sich etwas zu essen. Er kehrt nicht zurück. Als die Sonne aufgeht, läuft Mohammed los, bis er einen Menschen trifft. In gebrochenem Englisch fragt er: Wo sind wir hier? Der Mann antwortet: München, in Deutschland.
25.000 Dollar hat Mohammed damals an die Schleuser bezahlt. „Deutschland“ – für die Hanils stand dieses Wort für Frieden und Wohlstand. Jetzt leben sie in einem Flüchtlingslager, einer Barackenstadt, versteckt hinter Büroblöcken am Stadtrand von München. Seit fünf Jahren. Wie die Hanils verlassen laut einer UN-Statistik jeden Monat 100.000 Iraker ihr Heimatland, aus Angst vor dem Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten, in dem letztes Jahr 34.000 Iraker gestorben sind.
Als die Hanils 2002 nach Deutschland kamen, erhielten sie Asyl – zunächst. Nach dem Ende des Irakkrieges 2003 wurde es aber nicht verlängert. Die bayerischen Behörden weigern sich bis heute, den Irak als Bürgerkriegsland anzuerkennen. Das Landesverwaltungsgericht urteilte, im Irak herrsche keine humanitäre Notlage.
Fünfmal am Tag steht Mohammed von seinem Sessel auf und nimmt den Gebetsteppich vom Schrank. Schräg breitet er ihn auf dem Fußboden aus, der Teppich passt knapp zwischen Fernseher und Tisch. Er stellt sich hin, murmelt „Allahu Akbar“, Gott ist groß. Er kniet nieder, beugt sich nach vorn, bis Stirn und Nase den Teppich berühren. Er weiß, als Muslim muss er Gott danken im Gebet, denn was ihm widerfährt, es ist Gottes Wille. Aber manchmal fragt sich Mohammed, warum Gott ihn auf diese Probe stellt. Eine bessere Zukunft wollte er seinen Söhnen bieten, nun haben sie nicht mehr, als in ein paar Schubladen passt, ein enges Zimmer mit ein paar zusammengesuchten Möbeln. Sie können nur tun, was ihnen der Staat nicht verbietet. Wollte er zu viel, damals in Bagdad? Hat er Gott nicht genug gedankt? Den Teppich hat er bei einem türkischen Händler im Münchner Bahnhofsviertel gekauft. Er zeigt eine goldene Moschee, dort, wo Mohammeds Knie ihn jeden Tag berühren, sind die Farben ausgeblichen.
Die Hanils wurden politisch verfolgt im Irak. Mohammeds ältester Sohn hatte sich geweigert, an einem Militärcamp für Studenten teilzunehmen. Er tauchte unter, die Polizei verhaftete Mohammed. Er wurde eingesperrt und gefoltert, er sollte sagen, wo sein Sohn sich versteckte. Die Polizei verhörte und bedrohte Mohammeds Frau und seine Verwandten – sein Sohn blieb versteckt und floh ins Ausland. An dem Tag, an dem Mohammed aus dem Gefängnis freikam, flüchtete er mit seiner Familie aus Bagdad. Sechs Monate später griff die US-Armee den Irak an. Das Haus der Hanils wurde bei einem Bombenangriff zerstört, es stand in der Nähe von Saddam Husseins Privatflughafen.
2006 haben etwa 30.000 Flüchtlinge aus aller Welt Deutschland erreicht. Diejenigen, die nicht wieder abgeschoben werden können, werden zu Geduldeten. 190.000 von ihnen leben heute in Deutschland, 10.000 kommen aus dem Irak. Sie leben in großen Flüchtlingslagern, die der Staat Gemeinschaftsunterkünfte nennt. Zweimal in der Woche erhalten sie ein Essenspaket, einmal im Monat ein Taschengeld von vierzig Euro pro Person. Mit alldem könne er leben, sagt Mohammed, aber warum er nicht arbeiten darf, Geld verdienen, eine eigene Wohnung mieten, das versteht er nicht. Mohammed darf nur arbeiten, wenn er einen Job findet, den kein Deutscher und kein EU-Ausländer annehmen will. „Nachrangigkeitsregel“ heißt das. In Bagdad war Mohammed Mathematiklehrer, seine Frau Rechtsanwältin, beide haben an der Universität der Hauptstadt studiert. Und jetzt finden sie keine Arbeit, überhaupt keine.
Abends nach der Schule sitzen Azar und Sanir, Mohammeds jüngere Söhne, mit ihren Eltern auf dem Sofa. Die Mutter hat gekocht, auf der elektrischen Herdplatte im Schrank. Gemüse und Reis, das Geschirr steht vor ihnen auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sofas. Nach dem Essen dösen sie, machen Hausaufgaben, schauen in den Fernseher. Manchmal beugt sich Mohammed vor und drückt einen Knopf am Receiver, der Sender wechselt auf einen anderen arabischen Kanal. Talkshows, Kindersendungen, Diskussionen wechseln sich ab, ihnen ist es gleichgültig, der Ton ist ohnehin leise gedreht. Dann kommt ein Fußballspiel, ein Tor fällt. Azar zeigt auf den Bildschirm, Mohammed hebt nur müde den Kopf. Sie gehen früh ins Bett, meistens zwischen neun und zehn.
An manchen Abenden klopft es an der Tür. Segil, die kurdische Frau aus dem Zimmer nebenan, kommt herüber. Sie setzt sich neben Sana, die beiden Frauen fangen an zu reden. Sana erzählt die Geschichte einer Frau aus der Baracke, deren Mann sich nicht mehr rasieren will. Seine Frau kauft ihm jetzt Alkohol, wartet, bis er betrunken einschläft, nimmt eine Schere und schneidet ihm dann den Bart ab. Die Frauen lachen.
Manchmal reden sie auch über ihr Leben früher im Irak, dann holt Sana eine braune Lederkiste. Es sind Fotos, die Verwandte nachgeschickt haben. Sie zeigen ihr Haus im Bagdader Viertel Hayalateba, dem Viertel, in dem vor allem Rechtsanwälte und Ärzte wohnen. Die Kinder, wie sie in der breiten Hofeinfahrt spielen, über dem Garagentor hängt ein Basketballkorb. Den Garten, die Terrasse zwischen blühenden Rosenhecken. Das Geburtstagsfest Azars. Verwandte und Bekannte stehen im Wohnzimmer, Musiker spielen, das Zimmer ist mit Girlanden und Lampions geschmückt, auf einem Tisch stehen riesige Schüsseln voll Essen.
Dann ältere Bilder. Sana und Mohammed beim Urlaub in Jordanien, barfuß am Strand, vor einem Wasserfall, unter Palmen. Bilder von der Universität, Sana unverschleiert als junge Frau in Rock und hohen Stiefeln, lachend mit ihren Freundinnen. Jetzt sitzt Sana mit Tränen in den Augen da, sie sagt zu Segil: „Früher hatten wir einen Koch, einen Gärtner, wir hatten Arbeit, hatten ein schönes Haus. Und jetzt? Sieh dich um.“ Sie weist mit dem Arm in ihr Zimmer.
Das Flüchtlingslager der Hanils ist kein Ort, an dem man leben möchte. Auf der Größe von zwei Fußballfeldern stehen etwa fünfzehn Baracken mit fünfzehn bis zwanzig Zimmern. Das Gelände ist mit Maschendraht, Sichtschutzplanen und Stacheldraht eingezäunt, nur durch zwei Metalltore kommt man hinein. In den Baracken quillt die Isolierwolle aus den Wänden, von der Decke hängen Drähte aus den Neonröhren. An den Zimmertüren stehen mit Filzstift geschriebene arabische Wörter, Koransuren, Namen, oft mehrmals durchgestrichen. Die Gemeinschaftsküche ist ein kahler Raum, neben der Tür hängen zwei Metallwaschbecken, aus den Wasserhähnen rinnt ständig Wasser. Es riecht nach altem, fettigem Essen, die Mülltonne in der Ecke quillt über. Der Innenhof zwischen den Baracken ist voll von Antennenschüsseln, alle sind in dieselbe Richtung gedreht.
Die große Koalition wollte bereits 2006 ein neues Bundesgesetz zum Bleiberecht für geduldete Flüchtlinge wie die Hanils beschließen. Innenminister Wolfgang Schäuble und Arbeitsminister Franz Müntefering handelten einen Kompromiss aus, langjährig Geduldete sollten ein befristetes Aufenthaltsrecht und die Möglichkeit uneingeschränkter Arbeitssuche erhalten. Die Innenministerkonferenz unter Führung von Bayerns CSU-Innenminister Günther Beckstein kippte den Beschluss wieder.
Seitdem wird in Berlin weiterverhandelt. Die Erfolgsaussichten sind minimal, denn SPD und CDU vertreten gegensätzliche Meinungen. Die SPD will Flüchtlingen zuerst ein Bleiberecht und damit die Chance, Arbeit zu finden, geben, die CDU will Flüchtlingen nur eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn sie einen Arbeitsplatz vorweisen können. Erst Anfang Februar hat Justizministerin Brigitte Zypries, SPD, einen vorläufigen Gesetzentwurf Schäubles abgelehnt. Wegen Verfassungswidrigkeit, so die Ministerin.
Ein- oder zweimal im Monat machen die Hanils einen Ausflug. Sie nehmen dann die U-Bahn zum Hauptbahnhof und gehen in eines der arabischen Internetcafés. Sie quetschen sich vor einen der Rechner, schalten die Webcam ein und hoffen, dass Asrai, ihre Tochter und Schwester, es auch ins Internetcafé geschafft hat. Asrai ist 28, sie ist das älteste der fünf Hanil-Kinder. Sie war schon verheiratet, als ihre Eltern und Geschwister flüchteten. Mit ihrem Mann ist sie nach Libyen ausgewandert, dort arbeitet sie und hat zwei Kinder.
Auf dem Monitor erscheint ein Bild: Asrai mit ihren Söhnen. Alle winken in die Kamera, die Hanils winken zurück. Asrai tippt etwas in die Tastatur, bei den Hanils erscheinen ein paar Wörter auf dem Bildschirm: „Mama, du weinst ja, ich kann es sehen. Weine nicht, sonst muss ich auch weinen.“
* Alle Namen sind geändert