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Archiv-Artikel

„Wir wollen die Schule für alle“

Der Juso und Politikstudent Martin Timpe fordert mehr Mut bei den Bildungsreformen. Heterogene Schulen mit kleinen Klassen sollen zu besseren Leistungen führen

MARTIN TIMPE, 28, ist im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen. Er lebt in Berlin und studiert an der dortigen FU Politikwissenschaften. FOTO: PRIVAT

taz: Herr Timpe, der Aktionsrat Bildung fordert radikale Bildungsreformen. Sie nennen diese „radikal unsozial“. Warum?

Martin Timpe: Wir stimmen in der Diagnose überein, dass das Bildungssystem ein Problem mit sozialer Gerechtigkeit hat. Die Lösung, aus einem drei- ein zweigliedriges Bildungssystem zu machen, halten wir aber gerade nicht für sinnvoll, das zementiert die soziale Selektion.

Wie sollte sich die soziale Selektion gerade dadurch verstärken, dass es nur noch zwei statt drei Schultypen gibt?

Die Aufteilung in zwei Schultypen würde die Chance, die man im Moment hat, nicht ergreifen. Durch die demografische Entwicklung müssen immer mehr Schulen zusammengelegt werden. Da sollte man den mutigeren Schritt gehen und gleich eine Schule für alle schaffen, statt das Gymnasium für die Privilegierteren zu erhalten und eine Sekundarschule mit den restlichen Schultypen für alle anderen zusammenzufassen.

Wäre die Umstellung auf „eine Schule für alle“ überhaupt auf einmal machbar? Ein zweigliedriges Schulsystem ist doch ein Zwischenschritt.

Wenn es denn ein Zwischenschritt wäre – meinetwegen. Aber die Gefahr ist, dass man dabei dann für Jahrzehnte stehenbleibt. Und diese Gefahr ist zu groß, um diesen Zwischenschritt zu akzeptieren. Dass man nicht gleich alle drei Schultypen zusammenlegt, liegt in Wahrheit nicht an organisatorischen oder finanziellen Schwierigkeiten, sondern daran, dass die Eltern, die ihre Kinder auf Gymnasien schicken wollen, eine zu starke Lobby sind.

Wie sollte denn ein zukunftsfähiges Schulsystem aussehen?

Alle Schüler bis zur zehnten Klasse werden unter einem Dach unterrichtet. Das heißt nicht, dass alle den gleichen Abschluss machen, aber, dass alle bis zum ersten möglichen Abschluss die gleichen Chancen haben. Dann können sie entscheiden, ob sie den nächsthöheren Abschluss anstreben oder den Weg einer Berufsausbildung gehen. Dafür müsste man sicherlich den Unterricht umgestalten und mehr Geld in die Hand nehmen, um mehr Lehrer einzustellen. Die Lehrer zu demotivieren und unter Druck zu setzen, wie es der Aktionsrat tut, wäre sicher der falsche Weg.

Der Rat schlägt verpflichtende Fortbildungen und befristete Arbeitsverhältnisse vor. Wenn man so keine engagierten Lehrer bekommt – wie dann?

Für einen Umbau des Bildungssystems sollte man die Lehrer mitnehmen und nicht abschrecken. Wenn man die Mitarbeiter unter Druck setzt, nehmen sie nur an den Fortbildungen teil, weil sie halt müssen. Man sollte lieber die Klassen verkleinern und kleine Lerngruppen schaffen. Wenn sich die Lehrer auf einzelne Schüler konzentrieren können, motiviert das mehr.

Können an einer Schule für alle wirklich alle Schüler optimal gefördert werden?

Man sollte endlich den Glauben aufgeben, dass es für alle am besten ist, wenn man homogene Lerngruppen hat. Schüler, die in einem Fach wesentlich besser sind als andere, lernen viel dazu, indem sie den Schwächeren helfen. Es stärkt ihre Sicherheit im Fachwissen, aber auch ihre sozialen Kompetenzen.

Sollte auch die Wirtschaft einen Beitrag zu einer solchen Bildungsreform leisten?

Sie sollte endlich mal ihren Anteil an der beruflichen Ausbildung wirklich erbringen. Es werden von der Wirtschaft viel weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt, als wir eigentlich bräuchten. Wenn diese Defizite abgebaut würden, wäre vielen Jugendlichen ohne Ausbildungsstelle schon mal geholfen.

INTERVIEW: MARTIN MÜLLER