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Archiv-Artikel

Ränder, Zentren und das ganz Andere

Eine Litauerin, eine Bulgarin und ein Deutscher sind mit der Kamera auf die Suche nach europäischen Werten gegangen. Gefunden haben sie eine Festung, öde Grenzorte, agile Hausbesetzer und fast vergessene bulgarische Muslime. Gezeigt wird das alles nun in Hamburg

Am Anfang steht die schlichte Kenntnisnahme europäischer Geschichte, zu der auch die muslimischen Osmanen gehören

VON PETRA SCHELLEN

Ist sie wirklich so entscheidend, die Frage nach europäischen Werten? Macht „Uns“ wirklich so besonders, dass wir Werte definieren, besser, fortschrittlicher, humaner als alle anderen? Die Initiatoren der Ausstellung „Was ist wichtig? Eine fotografische Recherche zu europäischen Werten“ im Hamburger Haus der Photographie glauben: Ja, europäische Werte existieren. Und eine Chance, sie zu ergründen, ist die fotografische Recherche.

An Europas Außengrenzen, manchmal auch mitten in geheime Wohnungen, sind drei mit Reisestipendien ausgestattete FotografInnen im Auftrag einer Stiftung und der Hamburger Deichtorhallen gefahren. Im Detail wollten sie erkunden, was sich per Definition so schwer fassen lässt.

Welche Gemeinsamkeiten sind also zu erwarten, wenn eine Litauerin, eine Bulgarin und ein Deutscher auf eine solche Spurensuche gehen? Um es klar zu sagen: Sie haben nichts gefunden – und so richtig wollten sie das wohl auch nicht. Als höchst individuelle Forschungsreisen haben Joana Deltuvaite, Pepa Hristova und André Lützen ihre Expeditionen vielmehr bezeichnet. Die Vielfalt Europas dokumentieren ihre Fotografien – und natürlich das Phänomen „Festung Europa“.

Überraschend, wie schnell beim Betrachter entsprechende Assoziationen wirken: Warum denkt man beim ersten Meeres-Bild, das in der Ausstellung gezeigt wird, unweigerlich und sofort an afrikanische Flüchtlinge an den Stränden von Europas Sonneninseln? In der Tat hat André Lützen das entsprechende Foto in der spanischen Enklave Melilla in Marokko aufgenommen. Man lag mit seiner Ahnung also nicht falsch. Auch überrascht es nicht, dass die folgenden Gitter, die die Straße zu Flüchtlingsbaracken säumen, einen an das weder offene noch tolerante Europa denken lassen. Und doch hat es etwas erstaunlich Erdrückendes, auf den Fotos des Hamburger Fotografen den Weg nach Europa aus der Perspektive dieser Gestrandeten mitzugehen. Danach fühlt man sich ein ganz klein wenig beklommen angesichts der titelgebenden Frage, was denn nun wichtig sei für Europa – ist es am Ende schlicht die Abgrenzung?

Die Ausgänge Europas zeigen sich andererseits auch nicht sonderlich faszinierend: Die Ödnis osttürkischer Orte wirkt kaum einladend, ebenso wenig die kargen Flure und gerölligen Ebenen, hinter denen gleich Georgien losgeht. Ist dies ein Europa, in das zu flüchten sich lohnt? Ist es als Alternative zur kargen Heimat ernst zu nehmen, dieses Europa, das an den Rändern derart diffundiert und nur in seinen Zentren wirtschaftlich lebendig scheint?

Fragen, wie sie André Lützen nur sehr dezent in seine Bilder lädt, denn zu moralisieren liegt ihm fern. Worin sich Europa aber von allem Umliegenden unterscheidet, wenn Dies- und Jenseits bloß ein paar trostlose Straßen und ein anonymes Geröllfeld trennen, das beantworten die Bilder nicht. Lützen dokumentiert lediglich die Ödnis dieser Orte. Er sagt nicht, ob er daran glaubt, dass dahinter der ganz ferne Kulturkreis, das ganz Andere droht.

Tatsächlich existiert ein Großteil der Unterschiede zwischen drinnen und draußen nur in den Köpfen, findet die Litauerin Joana Deltuvaite. Die Interieurs von Hausbesetzern in London, Amsterdam und Berlin jedenfalls, die sie ins Bild gesetzt hat, unterscheiden sich kaum. Die Mentalität in der Hausbesetzer-Szene sei überall gleich, sagt die Fotografin, die in Vilnius eine Zeitlang neben einem besetzten Haus wohnte und dessen Bewohner später in Westeuropa wiedertraf.

Mit fast zärtlichem Blick fürs Detail und dem Gestaltungswillen derer, die jederzeit hinausgeworfen werden können, hat sie die Zimmer dieser Häuser fotografiert. Europa im Kleinen, ein Staat im Staat spiele sich in solchen Wohngemeinschaften ab, sagt Deltuvaite. Dafür liebt sie sie. Und wünscht sich jene Toleranz auch für Resteuropa.

Und die bulgarische Fotografin Pepa Hristova, was wünscht sie? Nicht nur Toleranz, sondern zunächst die schlichte Kenntnis der europäischen Geschichte. Denn die umfasst, im Südosten des Kontinents, auch die jahrhundertelange Präsenz des Osmanischen Reichs. Jener Osmanen, die die Islamisierung eines Teils der bulgarischen Bevölkerung – der Pomaken und der ethnischen Türken – erzwangen. Die Definition Europas über die Abwesenheit des Islam, über Religion überhaupt, wie sie Polen so gern in der europäischen Verfassung gesehen hätte, kommt also nicht in Betracht.

Eine Tatsache, die Hristovas Fotos demonstrieren: Angehörige der muslimischen Minderheit in Bulgarien hat sie besucht und porträtiert. Nicht, um die bulgarischen Muslime in ihrem Opferstatus vorzuführen oder gar die Bedrohung zuillustrieren, die der Westen in solchen Gruppen sieht. Nein, sie wollte einfach eine Facette Europas präsentieren, von der sie selbst kaum wusste.

In abgelegenen bulgarischen Dörfern, teils auch in der Türkei, wohin sie auswanderten, hat Hristova fotografiert und Bräuche aus 300 Jahren vorgefunden. Da wird die Braut vor der Hochzeit stundenlang liegend bemalt, bis sie wie eine Mumie aussieht – einbalsamiert für das künftige, das wesentlich unfreiere Leben. Auch Männer, die wie Mongolen auf Pferderücken merkwürdige Spiele spielen, kann man sehen. Oder Beerdigungen, bei denen Frauen hockend Klagegesänge anstimmen.

Exotisch mag das wirken für den westeuropäischen Betrachter. Doch zum Eindruck, dass die Fotografin damit spielt, gelangt man nicht. Sie dokumentiert, was ist – mehr nicht.

Schwer zu sagen, ob Europas Identität in den Zentren oder in der Peripherie entschieden wird. Vielleicht sind die kantigen, nur auf den ersten Blick öden Ränder letztlich das Markanteste. Und vielleicht ist alles Gerede vom Schmelztiegel Europa nicht nur historisch falsch, sondern mündet auch in eine kulturelle Einebnung, die keine der beteiligten Nationen will.

Die Fotografen der Hamburger Ausstellung machen mit ihrer Mischung aus subtiler Kritik und dem Aufzeigen von überraschenden Ähnlichkeiten ein brauchbares Angebot. An einer realistischen Definition Europas kann weiter gearbeitet werden.

Die Ausstellung „Was ist wichtig? Eine fotografische Recherche zu europäischen Werten“ ist bis zum 6. Mai im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen