„Nur noch eine Interessenvertretung“

TAZ-SERIE JÜDISCHES LEBEN Zum Schluss der Serie spricht der Soziologe Michal Bodemann über Wohl und Wehe in der Jüdischen Gemeinde

■ geboren 1944, ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität von Toronto, Autor zahlreicher Bücher über Juden in Deutschland nach 1945 und selbst Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

INTERVIEW ALKE WIERTH

taz: Herr Bodemann, seit Jahren herrscht mittlerweile Streit in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, es gibt Abspaltungen, neue jüdische Organisationen entstehen – die alte Einheitsgemeinde bröckelt. Was kommt da zum Ausdruck?

Michal Bodemann: Berlin ist kein Einzelfall. Um die heutige, ziemlich schreckliche Situation zu verstehen, müssen wir uns die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Deutschland – Ost und West – nach dem Zweiten Weltkrieg anschauen. Die jüdischen Gemeinden waren schon damals seltenst einheitlich und frei von inneren Problemen und Konflikten. Im Westen standen „deutsche Juden“, Überlebende oder Rückkehrer, überlebenden Juden aus Osteuropa gegenüber. Die deutschen Juden repräsentierten typischerweise die Gemeinschaft gegenüber Ämtern und Politik der Bundesrepublik. Die osteuropäischen Juden, die sich in der fremden Welt ihrer Peiniger und Mörder wiederfanden, blieben weitgehend unter sich – wie in einem Kokon abgeschlossen von der Umwelt. Die Beziehung zwischen diesen beiden jüdischen Gruppierungen in Westdeutschland war zumeist die eines symbiotischen Unverständnisses. Ganz unähnlich ist die heutige Situation in der Berliner Gemeinde dem nicht.

Die damaligen Gemeinden waren als sogenannte Liquidationsgemeinden gegründet worden, deren hauptsächliche Aufgabe die Unterstützung der Auswanderung der noch in Deutschland lebenden Juden war, die der Vernichtung durch die Nazis entgangen waren.

Mitte der 50er Jahre war deshalb die Zahl der etwa 250.000 bei Kriegsende in Deutschland befindlichen Juden auf etwa 30.000 geschrumpft. Und in Ostdeutschland, der DDR, wo unter 5.000 Juden lebten, gab es nur wenige Zuzügler aus dem Osten. Die Mehrzahl dort waren Juden, die zumeist als sogenannte Antifaschisten zurückgekommen waren und nun den Sozialismus mit aufbauen sollten. Vor allem in den letzten Jahren der DDR verkörperten sie den Antifaschismus schlechthin. Die internationalen jüdischen Organisationen schauten gleichzeitig mit Verachtung auf die in beiden Teilen Deutschlands gebliebenen Juden. Sie galten ihnen als Verräter, die im Land der Täter geblieben waren. Auf diese Weise international isoliert, warfen sich die in Deutschland lebenden Juden in die offenen Arme der deutschen Gesellschaft – in Ost wie West. Sie hatten keine andere Wahl. Dabei lag es den deutschen Regierungen daran, sie in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Im weiteren Verlauf entwickelte sich die Rolle der Juden zu einer Art Indikator – einem Lackmustest der Demokratie, wie es damals hieß: Wo Juden leben, kann es keine Nazis geben. Vorsitzende des Zentralrats der Juden dienten deutschen Politikern als Türöffner bei Kontakten nach Israel. Aufgrund ihrer Feigenblatt-Rolle gewannen die jüdischen Gemeinden hier an Bedeutung – ganz besonders galt das für Westberlin.

War diese Ablehnung durch die internationalen Organisationen für die hier in Deutschland lebenden Juden nicht furchtbar?

Die Perspektive war eben: Deutsche sind Nazis. Und es war ja auch für die hier Lebenden so, dass sie nie wissen konnten, was der Mann, der im Bus neben ihnen saß, früher gemacht hatte. Deshalb hat sich die jüdische Gemeinschaft hier nach außen abgeschirmt, es war wie in dem besagten Kokon. Gleichzeitig konnte sich eben dadurch wieder jüdisches Leben entwickeln. Verändert hat sich das alles erst nach 1989, als Ignatz Bubis im Vorstand und später Vorsitzender des Zentralrats war.

Es lag an der Person, dass sich etwas veränderte?

Es war vielleicht eher so, dass die Entwicklungen in der jüdischen Gemeinde sich in ihrer Führung widerspiegelten. Mit Bubis fing das deutsche Judentum an, lebendiger zu werden. Es tat sich dabei in Frankfurt zunächst mehr als in Berlin, wo Heinz Galinski …

der von 1949 bis 1992 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin war…

… der Gemeinde ein monolithisches Korsett angelegt hat. Deshalb entwickelte sich intellektuelles jüdisches Leben eher in Frankfurt als in Berlin – hier jedenfalls nicht in der Gemeinde. Kritische Meinungen innerhalb der Gemeinde wurden nicht toleriert, die solche vertraten, wurden zu Nichtjuden erklärt. Das änderte sich dann zum einen mit der in den Neunzigerjahren einsetzenden Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion. Zum anderen, weil Frauen in der Gemeinde wichtigere Rollen einnahmen. So sind eine immer größere Vielfalt, aber auch offensichtlichere Konflikte entstanden – vor allem zwischen Einheimischen und russischsprachigen Zuzüglern, ähnlich wie bereits in den 50er Jahren.

■ Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist die größte der jüdischen Gemeinden in der Hauptstadt. Zuerst 1671 gegründet, verfügte sie vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten über 160.000 Mitglieder, von denen 1945 nur wenige Tausend die Vernichtung durch die Nazis überlebt hatten. Mittlerweile ist die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde zu Berlin auf 10.000 bis 12.000 angestiegen. Etwa drei Viertel davon sind Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Gemeinde kümmert sich um religiöse und soziale Angebote für ihre Mitglieder und betreibt Schulen, Kindergärten und Altenheime.

■ Die Gemeinde erhält vom Senat finanzielle Unterstützung in Höhe von insgesamt 18 Millionen Euro im Jahr. Um die Verwendung dieser Gelder und auch um den Führungsstil des aktuellen Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe gibt es seit Längerem einen erbitterten Streit in der Gemeinde. Ein Abwahlbegehren, für das oppositionelle Mitglieder der Repräsentantenversammlung, des gewählten Führungsgremiums der Gemeinde, über 2.000 Stimmen sammelten, wurde im Frühjahr dieses Jahres von der Gemeindeführung abgeschmettert.

■ Nicht zuletzt deshalb etablieren sich zunehmend neue Strukturen außerhalb der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die eigentlich als sogenannte Einheitsgemeinde angelegt ist. Erst im März etwa gründeten aus Protest gegen den Vorstand ausgetretene Gemeindemitglieder die Gruppe Bet Haskala (Jüdische Aufklärung), die sich als dem liberalen Judentum zugehörig betrachtet. Die Gruppe hat bislang nach eigenen Angaben zwanzig Mitglieder.

■ Auch orthodoxe Juden organisieren sich außerhalb der Einheitsgemeinde: Eine lange Tradition hat etwa die Israelitische Synagogengemeinde Adass Jisroel (Gemeinde Israels), erstmals 1869 in Berlin gegründet. Ihr gehören heute etwa 1.000 Mitglieder an. Im Januar 2014 neu gegründet wurde Kahal Adass Jisroel (Versammlung des Volkes Israel) mit derzeit etwa 250 Angehörigen, viele von ihnen junge jüdische Familien, die teils aus den USA oder europäischen Ländern eingewandert sind. Sie wollen orthodoxes religiöses Leben mit dem modernen Berliner Alltag verbinden. Ebenfalls in Berlin ansässig ist die orthodoxe Bewegung Chabad Lubawitsch, die vor über 200 Jahren unter den chassidischen Juden Russlands entstand. Zudem sollen mittlerweile bis zu 30.000 Israelis jüdischen Glaubens in Berlin leben, die sich fern der bestehenden religiösen Organisationen eigene Strukturen aufbauen. (akw)

Wie würden Sie die Phase beschreiben, in der die Jüdische Gemeinde heute ist?

Die Gemeinde hat ihre Rolle als Instrument deutscher Außenpolitik und auch ihre ideologische Rolle in der deutschen Gesellschaft eingebüßt. Heute ist sie im Prinzip nur noch eine Interessenvertretung. Die ganze Erinnerungskultur ist von der deutschen Seite übernommen worden – manche Deutsche gerieren sich heute ja jüdischer als die Juden selbst. Sie ist eigentlich eine normale Einwanderergemeinde geworden. Und andere Einwanderergruppen, etwa die Türken und Muslime, spielen in der öffentlichen Wahrnehmung eine größere Rolle. Die Gemeinde war einst ein Instrument deutscher Politik. Heute ist sie, wie die jüdische Repräsentanz in Deutschland insgesamt, ein willfähriges Instrument israelischer Politik geworden. Sie hat beispielsweise mit dafür gesorgt, dass im Gazakrieg mit fast 2.000 Toten in der Zivilbevölkerung, fürchterlichen Zerstörungen und Sprüchen in Israel wie „Tod den Arabern“, Antisemitismus in Deutschland – der ernst zu nehmen ist – als der größere Skandal dargestellt wird.

Braucht es heute überhaupt noch eine Einheitsgemeinde?

Ja! Denn sie ist ja auch verantwortlich für einen wichtigen Teil jüdischer Infrastruktur wie Synagogen, Friedhöfe oder Schulen. Und die Verwendung der Gelder, mit denen der Berliner Senat solche Institutionen zum Teil mitfinanziert.

Viele Berliner Jüdinnen und Juden sind heute aber gar nicht mehr Mitglieder der hiesigen Gemeinde. War das in früheren Jahren anders?

Nein. Es waren immer vor allem diejenigen in den Gemeinden engagiert, die sich etwas davon versprochen haben. Ich nenne das bürokratische Patronage: Hilfe und Intervention bei deutschen Ämtern, bei der Wohnungs- oder Jobsuche als Belohnung für die Parteinahme für die Gemeindeführung. Und dafür war immer Loyalität die Voraussetzung, man durfte der Führung nicht in die Quere kommen. Das setzt sich mit den Streitigkeiten unter und um den heutigen Vorsitzenden Gideon Joffe fort.

Wie meinen Sie das?

■ Mit dem heutigen Interview zur Jüdischen Gemeinde endet die Serie „Jüdisches Leben in Berlin“. In ihr widmeten wir uns – beginnend am 10. Juli mit einem Interview mit Cilly Kugelmann, der stellvertretenden Leiterin des Jüdischen Museums – ganz unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens, vom Fußballklub Makkabi Berlin bis zur Frage, was Israelis an Berlin fasziniert.

Die jüdischen Gemeinden in Westdeutschland waren immer auch Wohlfahrtsorganisationen, die von staatlichen Subventionen lebten und diese auch teilweise an die Mitglieder verteilten. Anders als etwa in den USA, wo jüdische Organisationen klassische Diasporaorganisationen sind, die aus der Gemeinschaft heraus von unten her aufgebaut werden, kommt hier die Förderung von oben, was die Gemeinden im Grunde schwächt, weil die Wurzeln unten zu schwach ausgebildet sind. In Nordamerika muss sich die Gemeindeführung dafür interessieren, dass sie die Zustimmung ihrer Mitglieder hat. Sonst gehen sie woanders hin. Das ist hier nicht so.

Es gründen sich ja neue Organisationen, auch von aus der Gemeinde Ausgetretenen.

Das Problem wird am Ende aber doch sein, wie die Gelder verteilt werden, die der Senat an die Gemeinde zahlt. Es ist ja auch für den Senat das Einfachste, einer Dachorganisation, die eine Körperschaft öffentlichen Rechts ist, die Gelder zu übertragen. Ich würde deshalb vorhersagen, dass diese Neugründungen am Ende keine andere Wahl haben werden, als wieder unter das Dach der Gemeinde als Apparat zu gehen. Aber im Grunde hat das dann nicht mehr viel zu tun mit der Gemeinde von früher.

Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Rolle der jüdischen Gemeinschaft für die deutsche Gesellschaft ein?

Die Bedeutung der jüdischen Präsenz in Deutschland seit 1945 ist kaum zu überschätzen. Ihre Rolle vor allem in den ersten zwanzig Nachkriegsjahren war von enormer Bedeutung: Die Erinnerung an die deutschen Verbrechen und deren Opfer wurde vor allem durch die jüdische Präsenz tief in die Gesellschaft eingeprägt. Mittels ihrer ideologischen Arbeit, wie ich das nennen würde, wurde auch der Neonazismus in Deutschland in Schranken gehalten und der Multikultur der Weg geebnet. Und schließlich wurden nicht zuletzt auch im religiösen Bereich Strukturen geschaffen, die es den türkischen Muslimen ermöglichten, sich leichter in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Bei allen schrecklichen und peinlichen Vorkommnissen in der Jüdischen Gemeinde heute sollte diese überragende Rolle nicht vergessen werden.