: Schafft das Internet Freiheit?
NETZ Kommunikation, Revolution, Spionage, Blamage: Online geht alles. Das kann auch eingrenzen – und offline Konsequenzen haben
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Antworten von Leserinnen und Lesern aus und drucken sie in der sonntaz.
JA
Hamad Abdel-Samad, 38, ist deutsch-ägyp-tischer Politikwissenschaftler und Autor
Im Januar 1972 gab es in Kairo eine Studentenrevolution, von der heute selbst viele Ägypter nichts wissen. Die Vorbereitung erfolgte über Telefone und Flugblätter. Das machte die Organisatoren identifizierbar. Viele wurden verhaftet; der Aufstand wurde im Keim erstickt. Im Januar 2011 war die Kommunikation dank Facebook und Twitter schneller, effektiver. Das Internet war Mittel der Kommunikation – und Instrument der Befreiung vom offiziellen Wissen der Regierung. Der Westen hat Facebook erfunden, Ägypter und Tunesier haben ihr Leben damit verändert. Sie haben nicht das Privileg, sich über Datenschutzlücken im Sozialnetzwerk zu beschweren – ihr Verständnis von Freiheit ist existenzieller.
Julius und David Dreyer, 28 und 30, sind Gründer der Sex-Dating-Plattform poppen.de
Das Internet ist ein nützliches Werkzeug, um die Welt zu einem freieren Ort zu machen. Räumliche Distanzen schrumpfen dank Internet auf die Intimität unserer digitalen sozialen Netzwerke. Egal, ob es um die Ölkatastrophe im Pazifik oder die Diskussion um Atomkraft geht, die Welt gewinnt an Bewusstsein für globale Auswirkungen individueller Handlungen. Ob sexuell auf poppen.de – oder die Umwelt betreffend in einer Facebook-Gruppe: Die Menschen können sich heute relativ anonym mit Gleichgesinnten verknüpfen, um gemeinsam ihren Horizont zu erweitern. Im Netz entstehen täglich Konzepte, die uns die Anforderungen unserer Zeit erleichtern – und zu einem bewussteren Zusammenleben führen.
Isolde Charim, 51, ist Philosophin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien
Es gibt heute eine vehemente Frontlinie, die zwischen Internetutopisten und Internetapokalyptikern verläuft. Je nachdem, ob man nur die negativen oder nur die positiven Seiten der Vernetzung sieht, ist das Internet per se freiheitsfördernd oder freiheitseinschränkend, demokratieerweiternd oder -reduzierend. Ziemlich eindeutig lässt sich feststellen: Derzeit überwiegen die Freiheitsmöglichkeiten, die Entstehung von politischen Freiräumen durch das Internet. Und das gilt nicht nur für den arabischen Raum. Wer jemals eine Demonstration organisiert hat, weiß, wie zentral das Internet für die politische Mobilisierung ist. Ebenso wie es enge gesellschaftliche Fesseln zu sprengen vermag. Das Internet verschiebt wesentliche Parameter wie jene von Zentrum und Peripherie oder die Trennung in „rückständige“ und „fortschrittliche“ Gesellschaften. Das sind Freiheitsgewinne.
Richard Allan, 45, ist zuständiger Director of European Public Policy bei Facebook
Ja – das heißt allerdings nicht, dass Internet an sich Freiheit schafft. Das Internet hat die freie Meinungsäußerung erweitert und weitere Freiheiten untermauert. Vor dem Aufkommen digitaler Technologie war es nur wenigen möglich, zu vielen zu sprechen. Diese Exklusivität setzte sich in den frühen Tagen der PCs fort, als Plattformen zur Veröffentlichung von Inhalten nur von denen aufgebaut wurden, die es sich leisten konnten. Das „Information-Web“ der 90er erlaubte mehr Menschen Zutritt, war aber nicht komplett offen. Menschen erhielten größeren Zugang zu amtlichen Unterlagen, aber nur wenige nutzten diese Informationen aktiv. Heute bietet das Internet Menschen noch nie dagewesene Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten. Soziale Plattformen wie Facebook leisten hier einen entscheidenden Beitrag. Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten und Nordafrika zeugen von der Besonderheit des Internets und von Kommunikationsplattformen, die Nutzern Meinungen nicht vorschreiben, sondern Raum für das Vernetzen, Teilen sowie Diskutieren bieten. Dort wo politisches Engagement oft zu Einschüchterung und Todesdrohungen führte, schafft das Internet neue Möglichkeiten, politische Ansichten zu äußern. Das Ausmaß der Ausweitung der freien Meinungsäußerung mag noch nicht absehbar sein, dennoch sollten wir die tiefgreifende Veränderung, die das Internet für unsere öffentlichen Debatten bedeutet, nicht unterschätzen.
Beate Wedekind, 59, ehemalige Chefredakteurin von Elle und Bunte, ist Autorin
Da ich zu der Generation gehöre, die sich gut an das Arbeiten und Leben ohne Internet erinnern kann, gibt es für mich nur eine Antwort: Ja, das Internet macht frei! Wie einfach es ist, im Internet worldwide zu recherchieren, Kontakte zu knüpfen und zu halten, sich auf Kopfreisen zu begeben … Ich habe Anfang der 80er bei der Berliner Tageszeitung Der Abend volontiert – da gab es noch Bleisatz und die Recherchen waren größtenteils aus erster Hand. Spannend war das, aber auch zeitraubend und an manche (viele!) Informationen ist man erst gar nicht oder zu spät herangekommen. Das WWW hat Mauern eingerissen und ist für mich zu einer Art 24-Stunden-Universität geworden; mein Wissensspektrum hat es wesentlich erweitert. Natürlich sind wir in einer privilegierten Situation, da uns das Internet uneingeschränkt zur Verfügung steht. Natürlich birgt das Internet auch die Gefahr der Abhängigkeit, der Eingrenzung, des Lebens aus tausendster Hand, des Realitätsverlusts.
NEIN
Zahi Alawi, 37, ist ein deutsch-palästinensischer Journalist bei der Deutschen Welle
Das Internet kann keine Freiheiten schaffen, solange es keine Freiheiten in der realen Welt gibt. Sicherlich bietet das Internet einen freien Raum, in dem sich User frei bewegen können. –
Dennoch unterliegt das Internet in vielen Ländern einer Zensur. So bleibt die Freiheit im Netz begrenzt. Und sie ist nicht real. Wichtiger jedoch ist es, dass diese Freiheit ohne eine freiheitlich-demokratische Grundordnung umso unrealistischer erscheint. Denn Freiheit bedeutet Demokratie, freie Wahlen, keinen Polizeistaat, keine Verfolgung von Personen oder Institutionen. In vielen arabischen Ländern ist der Weg zur Freiheit immer noch ein sehr langer. Auch in Ägypten und Tunesien. Dort haben Facebook und andere Social Media dazu beigetragen, dass Mubarak und Ben Ali gestürzt wurden. Dort sitzen immer noch viele Blogger und Aktivisten hinter Gittern. So kann man erst über Freiheit durch das Internet reden, wenn alle diese Menschen wieder frei sind. Wenn jeder Bürger seine Meinung frei äußern kann, ohne Angst zu haben, verfolgt, verhaftet oder gar gefoltert zu werden.
Hans Leyendecker, 61, ist einer der bekanntesten deutschen investigativen Journalisten
Es ist ein Privileg, morgens im Internet die New York Times zu lesen, bevor die New Yorker sie im Briefkasten haben, aber das Netz kann auch zur Plage werden: Man weiß bald alles über alles und weiß nichts – diese Oberflächlichkeit macht unfrei. Es fehlt die notwendige Einordnung der Geschehnisse. Zeitungen und Internet ergänzen sich, wenn Langsamkeit nicht als Niederlage gilt. Oft und gern erzählte Rudolf Augstein vom ungarischen Schuster, der in einem Dorf lebte, dort glücklich ein Monatsblättchen redigierte und murmelte: „Was wird der Zar sich nächste Woche ärgern.“ Nicht nur der Schuster war vermutlich ein glücklicher Mann.
Nadine Seidel, 21, Studentin, hat die Frage auf der sonntaz-Facebook-Seite kommentiert
Internet macht nicht frei, es schafft neue Zwänge. Wir Studenten sind mehr denn je auf das Internet angewiesen. Zahlreiche Einschreibungen und Anmeldungen finden online statt, manchmal zu so unmöglichen Zeiten wie um Mitternacht. Dazu kommen E-Books und Texte, die nur online zur Verfügung stehen und eine teilweise exzessive, oft kurzfristige Nutzung für Diskussionsankündigungen, Veranstaltungsausfälle oder Ähnliches – das Postfach muss also am Besten mehrmals am Tag überprüft werden – Internet macht Kommunikation in manchen Bereichen vielleicht einfacher, aber frei macht es die Menschen ganz sicher nicht.
Ludwig Rentzsch, 35, ist Rechtsanwalt für Künstler-, Medien- und Internetrecht
Freiheit schafft das Internet vor allem für Kriminelle, die im Schutz der Anonymität Straftaten begehen. Nicht existierende Wertgegenstände werden bei Ebay scheinbar günstig verkauft. Bis der Betrug auffliegt, ist der Täter über alle Berge. Taten, die in der realen Welt keineswegs als Kavaliersdelikte gelten, sind im Internet salonfähig geworden. Es ist üblich, sich kostenlos mit Musik und Kinofilmen einzudecken und Fotos ohne Wissen des Fotografen kommerziell zu nutzen oder zu verkaufen. Wenn Post vom Anwalt kommt und der Urheber Schadensersatz fordert, richtet sich die Wut gegen die „Abzocke“ der für die Rechte der Künstler eintretenden Anwälte. Der Normalbürger ist nicht frei, er bewegt sich im Internet als gläserner Mensch und Zielscheibe blinder Gewalt. Von den Opfern schwerer Verbrechen ganz zu schweigen.