: „Missbrauch? Haben wir nicht festgestellt“
SOZIALLEISTUNGEN Zugang zu ALG II bekommen EU-Ausländer als Arbeitnehmer, sagt Dortmunds Jobcenter-Leiter Volkmar Kassner. Selbstständige können nur bei besonders geringem Verdienst Gelder beantragen, aber die Prüfungen sind penibel
■ leitet die Abteilung Leistung und Recht des Jobcenters in Dortmund. Er arbeitet seit 38 Jahren in der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter.
taz: Herr Kassner, die Bundesregierung will den „Missbrauch der Freizügigkeitsrechte unter dem Deckmantel der Erwerbstätigkeit“ bekämpfen. Dabei zielt sie vor allem auf Osteuropäer. Haben Sie solche Missbrauchsversuche festgestellt?
Volkmar Kassner: Da muss man ganz klar sagen: Das haben wir nicht festgestellt. Dass EU-Ausländer allgemein oder Rumänen und Bulgaren im Besonderen versuchen, in unser System zu kommen, um Leistungen missbräuchlich zu beanspruchen, ist uns nicht bekannt.
Welche Sozialleistungen können EU-Ausländer bekommen?
Abgesehen vom Kindergeld gibt es Zugang zu unserem System nur als Arbeitnehmer. Die können ALG II bekommen.
Als Arbeitnehmer gelten aber auch Selbstständige?
Ja. Die Antragsteller müssen Kontoauszüge, Bilanzen, Nachweise über ihre Geschäftstätigkeit vorlegen. Dass jemand heute einfach ein Gewerbe anmeldet, und morgen will er Leistungen, das gibt es nicht. Wir prüfen das sehr genau, auch ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt.
Nach wie langer Zeit kann ein Selbstständiger ALG erhalten?
Das ist nicht einheitlich geregelt, sondern wird im Einzelfall entschieden. Kriterium ist, dass eine reale wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt oder vorgelegen hat, die dazu geeignet ist, den Lebensunterhalt zu sichern.
Es gibt also keine Mindestverdienstgrenze?
Nein. Wenn jemand zum Beispiel als Selbstständiger 500 Euro im Monat verdient, besteht kein Zweifel an der Tätigkeit. Das reicht aber nicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dann kann auf ALG II aufgestockt werden. Auch wer unverschuldet gezwungen ist, seine Tätigkeit aufzugeben, etwa weil die Aufträge wegbrechen und es wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist, hat für eine gewisse Zeit einen Anspruch auf ALG II. Wenn jemand allerdings von Anfang an nur Verlust macht, dann wird es schwierig. Das wäre dann nicht geeignet, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Verfahren ist insgesamt sehr strikt.
Die geltende Rechtslage ist also ausreichend, um Missbrauch zu verhindern?
Ja. Es gibt Täuschungsversuche von Leistungsbeziehern, die heimlich anfangen zu arbeiten. Die gibt es bei Deutschen aber ganz genauso, das kommt keineswegs besonders bei EU-Ausländern vor. So was kriegen wir raus, wenn wir Daten abgleichen.
Wie viele Menschen werden von Ihrem Jobcenter betreut?
83.000 Leistungsempfänger, davon 23.900 Ausländer.
INTERVIEW: CHRISTIAN JAKOB