Todesurteile unterzeichnen, mit dem Enkel plaudern

LIDOKINO 3 „Maciste alpino“, ein Weltkriegsepos von 1916, und die Despoten-Groteske „The President“

Alles ist neu in der Sala Darsena. Der Eingangsbereich, die eleganten dunkelblauen Wandpaneele, die Beleuchtung, die mauvefarbenen Sitze. Paolo Baratta, Präsident der Biennale von Venedig, steht neben Alberto Barbera, dem Direktor des Filmfestivals, und preist in seiner Rede die Vorzüge des renovierten Kinos. Zwischen der Sala Grande und der Sala Darsena gebe es nun einen Gang, so dass Filmteams von einer Vorführung zur anderen eilen könnten.

Und erst das funkelnagelneue Atmos-Soundsystem! Baratta weist auf die circa 30 Lautsprecher, die neben der Leinwand, an den Längswänden und an der Rückwand angebracht sind. Damit wir ihre Kraft schätzen lernen, hören wir Donner und prasselnden Regen, das klingt beeindruckend und ruft Erinnerungen an Jahre wach, die von Unwettern getrübt waren. Einmal habe ich in der Sala Darsena erlebt, wie Wasser die Leinwand herunterrann.

Der Film, den wir zu sehen im Begriff sind, braucht das Soundsystem gar nicht, der Ironie sind sich Barbera und Baratta bewusst. Denn „Maciste alpino“ stammt aus dem Jahr 1916, folglich spricht darin niemand so, dass man es hören könnte. Aber das macht nichts, weil das Gemeinschaftswerk von Luigi Romano Borgnetto, Luigi Maggi und Giovanni Pastrone dafür sorgt, dass man aus dem Staunen gar nicht herauskommt. Der Film strotzt vor italienischem Patriotismus und vor Hass auf Österreich. Er betreibt Kriegspropaganda ohne Wenn und Aber, eine Texttafel am Anfang verkündet triumphierend, die italienische Zivilisation habe über die deutsche Barbarei gesiegt. In diesem Gedenkjahr 2014, in dem man so oft und so ernsthaft an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert, ist das eine interessante Erfahrung. Man erlebt die Ressentiments in voller Blüte, ohne nachträgliche Einhegung, ohne Schönung. Aus dem erbittert geführten Krieg in den Karnischen Alpen und den Friulanischen Dolomiten macht „Maciste alpino“ ein fröhlich-siegreiches Bergsteigerabenteuer. Hunger? Kälte? Sinnloses Ausharren auf 2.200 Höhenmetern während des Winters? Wen kümmert’s, solange Maciste in zart kolorierten Bildern die Steilwände hinaufsteigt oder sechs gegnerische Soldaten auf einmal verprügelt. Interessant an der populären Figur, auf der ein ganzes Film-Subgenre aufbaute, ist, dass zwei Dinge in ihr zusammenfließen, die sich sonst oft ausschließen: eine herkulische Stärke und eine von Charlie Chaplin geborgte Schläue. Das Nebeneinander von Kraft und List bringt mit sich, dass die Propaganda über weite Strecken lustig und fast kindlich verspielt gerät und sich der Hurrapatriotismus ins Gewand der physical comedy hüllt.

Kein Entkommen

Einem weiteren mächtigen Mann begegnet man im Eröffnungsfilm der Nebenreihe Orizzonti. „The President“ von Mohsen Makhmalbaf spielt in einem nicht näher benannten Land. Der titelgebende Präsident ist ein despotischer Herrscher, der zu Fall gebracht wird. Die Flucht außer Landes gelingt ihm nicht, und nun versucht er in Begleitung seines Enkelsohnes denjenigen zu entkommen, die er eben noch unterdrückte, und auch denjenigen, die er eben noch befehligte und die ihre Waffen nun opportunistisch gegen ihn richten.

Er flieht durch staubige Landschaften, karge Dörfer und verwaiste Rohbauten; die Revolution läuft währenddessen aus dem Ruder, so dass die Rede von Demokratie, die eine Nebenfigur mehrmals führt, wie blanker Hohn anmutet. Makhmalbaf, 1957 in Iran geboren, seit 2005 in London und in Paris ansässig, inszeniert „The President“ in lehrstückhafter Klarheit, mit Hang zur Groteske. Das fiktive Land gerät ihm wie eine Synthese all der Länder, in denen zurzeit Despoten regieren, gestürzt und von neuer Despotie abgelöst werden. Die Verwirrung und das Staunen, das „Maciste alpino“ auslöst, will sich dabei leider nicht einstellen; das Höchstmaß an Widersprüchlichkeit ist in „The President“ erreicht, wenn der Protagonist in einer der ersten Szenen Todesurteile unterzeichnet, während er mit seinem Enkel plaudert. CRISTINA NORD