: Lehrer in Mülltonnen
NEUKÖLLN Innenansichten aus dem Problembezirk
VON LUIS CRUZ
Ist Neukölln so was wie das Sahnebonbon unter den Berliner Bezirken? Harte Schale, weicher Kern? In den Medien und der öffentlichen Meinung als Keimzelle der „Deutschfeindlichkeit“ wahrgenommen, in der knallzarten Realität aber auch etwas zwischen Trendbezirk und Multikulti-Familien-Kiez. Der Hermannplatz ist Herberge für studentische Wohngemeinschaften, rund um die Weserstraße reiht sich eine hippe Kneipe an die andere. Und trotzdem scheint kein Beitrag über den Südberliner Stadtteil ohne Bemerkung über das Scheitern von Multikulti auszukommen. Und manchen gilt Neukölln als Rekrutierungsfeld für islamistische Terrororganisationen. Aber wie ist Neukölln wirklich? Und wie lebt es sich dort?
Mit dieser Frage beschäftigen sich die Schüler Ugur Adigüezel und Yachya Rmeid von der Neuköllner Otto-Hahn-Schule. Auf dem taz-Kongress unterhalten sich die beiden Schülervertreter mit taz-Redakteurin Alke Wierth über „die mediale Konstruktion eines Stadtteils und seiner BewohnerInnen“.
Mitgebracht haben sie einen selbst gedrehten 20-minütigen Dokumentarfilm, in dem sie ihren Stadtteil vorstellen, in dem beide seit ungefähr zehn Jahren leben.
Yachya ist in Ostfriesland geboren und arabischer Abstammung. Er ist der Dominantere von beiden. Bevor er auf die Otto-Hahn-Schule gewechselt ist, hat er über diese nur Schlechtes gehört. „Die haben mir gesagt, da werden die Lehrer in Mülltonnen geworfen“, erzählt er. Er hat etwas ganz anderes erlebt. „Ich bin mit meinen Lehrern richtig gut befreundet.“ Dass ihm dieser Umstand unter seinen Mitschülern den Ruf, ein Streber zu sein, einbringt, interessiert ihn nicht.
Ugur ist türkischer Abstammung und seit 1998 deutscher Staatsbürger. Er dürfe sich nun „Deutscher mit Migrationshintergrund nennen“, stellt er schmunzelnd fest. Er fühlt sich wohl an seiner Schule. Natürlich gebe es auch Mobbing unter den Mitschülern. Das sei aber nicht durch den hohen Ausländeranteil bedingt – der Schulleiter schätzt den Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund auf über 90 Prozent –, sondern liege lediglich an dem pubertierenden Wesen der etwa 700 Schüler. „So was gibt es doch überall“, meint Ugur.
Es ist die erste Veranstaltung des Tages. Schüchterne Jugendliche plaudern aus dem Nähkästchen, keine Profiredner mit Mitteilungsdrang. Eine echte Seltenheit auf diesem Kongress. Der kleine Veranstaltungsraum ist vollkommen überfüllt, einige müssen stehen, der Großteil kommt jedoch gar nicht erst herein. „Wurdet ihr schon mal aufgefordert, al-Qaida oder so beizutreten?“, möchte ein Zuschauer wissen. Ugur und Yachya lassen sich Zeit mit der Antwort.
■ Luis Cruz, 21, nahm im Oktober 2009 am Workshop der taz Panter Stiftung teil und studiert Sozialwissenschaften in Berlin