: Rekruten sollten Spaß haben – als Geiseln
In einer Coesfelder Kaserne wurden junge Soldaten in der Ausbildung misshandelt und entwürdigt. Der Kompaniechef genehmigte die „erlebnisorientierte Geiselnahme“. Rekruten hatten bei interner Ermittlung offenbar Angst auszusagen
AUS MÜNSTER BARBARA BOLLWAHN
Es ist wie in einem Film. Die einen schlüpfen in die Rolle der Geiselnehmer, die anderen spielen die Soldaten, die in Feindeshand fallen. Doch während es bei einem Film ein Drehbuch gibt, finden sich diesmal keinerlei Regieanweisungen. Das Filmset ist auch kein Studio, sondern ein Truppenübungsplatz der Freiherr-von-Stein-Kaserne im westfälischen Coesfeld. Die Geiselnehmer waren erfahrene Ausbilder. Die Gefangenen waren Rekruten, die erst wenige Wochen der Bundeswehr angehörten.
Seit gestern sind vor dem Landgericht Münster 18 Offiziere und Unteroffiziere angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, zwischen Juni und September 2004 Rekruten des Instandsetzungsbataillons während ihrer Grundausbildung misshandelt, entwürdigend behandelt und verhöhnt zu haben. Die Angeklagten sind zwischen 25 und 34 Jahre alt.
Der Prozess bietet erschreckende Einblicke in die Ausbildung bei der Bundeswehr. So sagte der damalige Kompaniechef aus, ein 34-jähriger Hauptmann, wie die Genehmigung der Geiselnahme zustande kam. Die beiden Zugführer seien zu ihm gekommen mit der Bitte, als „Ausbildungshöhepunkt“ eine Geiselnahme durchzuführen – „erlebnisorientiert und einsatznah“. Außerdem sollten die Rekruten „auch etwas Spaß haben“. Ohne irgendwelche Details zu kennen, stimmte er zu. „Ich habe den beiden Ausbildern vertraut.“
Auf das mehrmalige Nachfragen des Vorsitzenden Richters, ob es nicht nahegelegen hätte, „vorher ein Drehbuch zu sehen“, sagte er: „Aus meiner Sicht sollte da nichts Dramatisches passieren.“ Auch die Art, wie er damals die Ermittlungen führte, nachdem er von einem Offizier erfahren hatte, dass Soldaten mit Stromstößen malträtiert worden sein sollen, gibt zu denken. „Die Rekruten haben mir gesagt, sie haben das zugintern geklärt und sie haben keine Aussagen zu machen.“ Leider fragte der ansonsten sehr aufmerksam zuhörende Richter an dieser Stelle nicht nach.
Einer der damaligen Zugführer, ein 33-jähriger Hauptfeldwebel, äußerte sich ebenfalls, aber er war nicht bereit, Fragen des Gerichts zu beantworten. In einer vorbereiteten Erklärung sagte er, dass die Kompanie in Coesfeld bekannt „für eine fordernde und erlebnisorientierte Ausbildung“ sei. Deshalb und weil er seine Ausbildung mit Geiselnahme in Vorbereitung eines Afghanistaneinsatzes „genossen“ habe, sei die Idee entstanden, auch in der Grundausbildung eine solche durchzuführen. Wer während der Übung hätte aussteigen wollen, hätte nur das Codewort „Tiffy“ sagen brauchen. Tiffy ist der Name des großen gutmütigen Vogels in der „Sesamstraße“. Der Angeklagte sagte, das Codewort sei „ohne Hintergedanken“ gewählt worden.
„Durch die Bank“ hätten sich die Rekruten nach der Übung „euphorisch“ geäußert. Zu dem Vorwurf, dass er einem Rekruten die Stiefelspitze unter die Hoden geschoben haben soll, sagte er: „Das stimmt überhaupt nicht.“ Von Exzessen will er nichts mitbekommen haben. „Sollte es zu irgendwelchen Übergriffen gekommen sein“, sagte er, „dann kann ich nur sagen, dass es mir zutiefst leidtut.“
Der zweite Zugführer, ein 32-jähriger Hauptfeldwebel, ließ über seinen Anwalt eine Erklärung verlesen. Er sei „kein machtbesessener Schinder“, die Ausbildung sollte authentischer werden, oberstes Gebot sei gewesen, niemanden zu verletzen. Zudem verwahrte er sich dagegen, dass Rekruten mit Stromstößen misshandelt wurden, derartiges habe er nicht miterlebt. Er bedauerte es „außerordentlich“, dass „es zu Exzessen einzelner Soldaten gekommen ist“. Der bis Dezember terminierte Prozess wird morgen fortgesetzt.