: Alltag auf dem Straßenstrich
HIPPEN EMPFIEHLT Das Kino 46 zeigt die Dokumentation „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“, in dem Rosa von Praunheim von Strichern, Freiern und Streetworkern in Berlin erzählt
VON WILFRIED HIPPEN
Ein großer Stilist ist Rosa von Praunheim nie gewesen. Und doch erkennt man, wie sonst nur bei wenigen Filmemachern, seine Handschrift in jeder seiner Einstellungen. Dabei ist ihm der Inhalt immer wichtiger als die Form. Rein handwerklich gesehen ist sein neuer Dokumentarfilm „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ solide, aber eben auch extrem konventionell gedreht. Und dennoch hat wohl nur er ihn so machen können. Über die Jahre hat es eine ganze Reihe von Dokumentationen und Reportagen über die schwule Stricherszene in Berlin gegeben, aber nur von Praunheim geht das Thema zugleich so tabulos und einfühlsam an, dass man die Klischees schnell vergisst.
Um zugleich der Romantisierung und dem voyeuristischen Blick (sowohl auf die jungen, attraktiven Männer wie auch auf das Elend, in dem sie leben) zu entgehen, zeigt von Praunheim kaum Aufnahmen und Personen aus der aktuellen Stricherszene. Stattdessen interessiert ihn, was aus ehemaligen männlichen Prostituierten geworden ist. Er hat Gespräche mit fünf heute um die 30 Jahre alten Ex-Strichern geführt, die ganz unterschiedlich durch diese Phase ihres Lebens geprägt wurden.
Besonders tragisch ist das Schicksal des bosnischen Roma Nazif, den von Praunheim in Wien besucht, weil er als junger Mann aus Deutschland abgeschoben wurde, nachdem er schon früh in den Knast kam und dann schwer drogenabhängig wurde. Heute wirkt er vor der Kamera von Praunheim (der grundsätzlich jeden Mann gut aussehen lässt) wie ein körperlich, vor allem aber seelisch gebrochener Mann, der einsilbig und mit ausdrucksloser Stimme sein Leben als eine Reihe von Verletzungen, Demütigungen und Misshandlungen schildert.
Die meisten Stricher in Berlin kommen aus Osteuropa. In Rumänien gibt es ein Dorf, aus dem fast alle jungen Männer für ein paar Jahre nach Berlin gehen, um dort als Prostituierte zu arbeiten. Einer davon war der Roma Ionel, mit ihm reist von Praunheim in dieses Dorf, um zu zeigen aus welchen armseligen Verhältnissen die jungen Männer ins reiche Berlin kommen, und wie groß für sie die Verlockung des schnell mit Sex verdienten Geldes sein muss. Nur wenige von ihnen sind selber schwul und die Ex-Stricher sprechen von der Überwindung, die es sie kostete, den Freiern gefällig zu sein.
Romica kam zum Beispiel aus Rumänen zum Betteln nach Deutschland und verdiente dann als Stricher so gut, dass er seine Frau nachholte und mit ihr eine kleine Familie gründete. Heute arbeitet er als Putzkraft, scheint aber trotz der ärmlichen Verhältnisse ganz zufrieden mit seinem Leben zu sein. Daniel wurde dagegen vom sechsten Lebensjahr an vom Hausmeister seiner Schule missbraucht und als 14-Jähriger von Pädophilen auf den Strich geschickt.
Um dieses Milieu möglichst umfassend darstellen zu können, folgt von Praunheims Kamera dem rumänischen Streetworker Sergiu Grimalschi bei seiner Arbeit. Als einzige Frau im ganzen Film schildert eine Ärztin des Vereins „Hilfe-für-Jungs“ ihre Arbeit in einem Bus und die beiden Wirte einer Stricherkneipe schildern, wie die Szene sich verändert hat.
Naturgemäß war es selbst für von Praunheim am schwersten, Freier vor die Kamera zu bekommen. So berichtet ein älterer Mann als einziger anonymisiert über seine Erfahrungen und der österreichische Filmemacher Peter Kern erzählt im Stil eines großen theatralischen Monologs über seine Erfahrungen mit der gekauften schwulen Liebe. Bei jedem anderen Filmemacher wäre solch eine hemmungslose Selbstdarstellung ein Stilbruch – hier gehört sie zum von Praunheim-Touch.