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Archiv-Artikel

Das Gegenbild alles Sinnlichen

MONSTERTRAGÖDIE Angela Winkler spielt „Lulu“ im Berliner Ensemble, Robert Wilson inszeniert seine schönen Bilder und Lou Reed schrieb die Musik

Für das schönste Bild des Abends gibt es spontanen Szenenapplaus: Als sich unmittelbar nach der Pause der Vorhang hebt und den Blick auf eine ins surrealistische Blau sich verlierende Zypressenallee freigibt, deren karge Symmetrie von üppigen Kronleuchtern konterkariert wird. Die gebändigte Natur prallt also auf die sinnliche Prunklust der Zivilisation. Am Ende der Straße ist die Silhouette einer Frau zu sehen, die nicht nur die Zentralperspektive dieses formvollendeten Theaterbildes krönt, sondern auch das Begehren aller Figuren des Dramas auf sich konzentriert: Lulu, die Kindfrau und Titelheldin des jüngsten Abends von Robert Wilson. Lulu ist jenes erotische Tier, das die Männer reihenweise mordet und am Ende selbst gemordet wird.

Bei Wilson wird sie von der 65-jährigen Angela Winkler verkörpert – als geniale Fehlbesetzung sozusagen. Angela Winkler war als Seeräuberjenny mit einer merkwürdig aus der Zeit gefallenen, fast geschlechtslosen Erotik bereits in seiner Inszenierung der „Dreigroschenoper“ ein Ereignis.

Hier nun ist sie das Gegenbild alles Sinnlichen: eine in hochgeschlossene Gründerzeitroben gesperrte Jungfer, die zirpend, kichernd und traumwandlerisch räsonierend durch die Inszenierung schwebt und dabei ihre dramatischen Stationen (die vielen Ehen und Liebesbeziehungen also) eher wie Unfälle des Lebens über sich ergehen lässt. Dabei immer wieder in Wilsons leeren Bildern erstarrt, Lieder piepst, die der legendäre amerikanische Musiker und Velvet-Underground-Gründer Lou Reed zu diesem Abend beigesteuert hat. Und am Ende von Jack the Ripper ermordet wird, der als silbriges jugendlich-androgynes Gegenbild schon von Anfang an immer wieder die Szene kreuzt und von Sabin Tambrea gespielt wird.

Monstertragödie hat Frank Wedekind sein Stück im Untertitel genannt, auf dessen Urfassung der Wilson-Abend im Berliner Ensemble beruht. Auf das Monsterhafte alles Menschlichen hat Wilson sich auch konzentriert. Männer, die wie Gespenster aussehen, wie Untote, die von letzten Lüsten träumen. Dazwischen Lulu, altes Kind und seelenlose Jungfrau, eher ein Geschöpf E.T.A. Hoffmanns als Frank Wedekinds. Mal steht sie als Harlekin auf einer Treppe, mal liegt sie mit schwarzem Kleid und grünen Handschuhen in einen Bildausschnitt gesperrt, der schon ihr Sarg sein könnte.

Es sind schrille Exemplare aus einem surrealen Bestiarium, keine wirkliche Figuren, denen man an diesem Abend begegnet. Typische Wilsonfiguren, die ein Theater bevölkern, das wie kein anderes sich zur maximalen Künstlichkeit seines Gemachtseins bekennt. Und zwar in Bild, Musik und Schauspielerführung. In dieser radikalen Form allerdings erstickt Wilson gelegentlich seine Stoffe. Auch diesmal ist man der Posen und künstlichen Stimmungen gelegentlich etwas überdrüssig, droht der Theaterschlaf die Oberhand zu gewinnen.

Aus der Unlust an dieser geballten Oberflächenvirtuosität wird man aber immer wieder herausgerissen. Durch einen Schauspieler wie Georgios Tsivanoglou beispielsweise, der als Rodrigo Quast eine atemberaubend selbstironische Performance des alten Velvet-Underground-Titels „I’m just a Gift to the Women of this World“ abliefert: im goldenen Anzug, goldener, kubisch zugespitzter Tolle und tänzerischer Finesse. Oder durch das Erscheinen des geradezu grandios abstoßend aufgemachten Jürgen Holtz als Lulu-Vater Schigolch, dem die Verwesung bereits ins Gesicht geschrieben ist, als er für ein letztes Schwelgen mit Lulu den quadratischen Quast formvollendet meuchelt. Auch die Musik dieses Abends ist die Reise an den Schiffbauerdamm wert.

ESTHER SLEVOGT

■ Wieder am 14. April, 19.30 Uhr