: Rauschhaftes, gefräßiges Schauen
LIDOKINO 6 Ausgerechnet eine HBO-Miniserie, „Olive Kitteridge“ von Lisa Cholodenko, glänzt in Venedig
Früher wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass eine Fernsehserie auf einem Filmfestival der A-Kategorie Premiere feiert. Doch je anspruchsvoller Serien werden und je mehr Schwierigkeiten Festivals haben, ihren Platz im sich verändernden Koordinatensystem der bewegten Bilder zu behaupten, umso näher liegt es, Serien ins Programm zu nehmen. 2011 gab es am Lido Todd Haynes’ „Mildred Pierce“, 2013 bei der Berlinale Jane Campions „Top of the Lake“ zu sehen; in diesem Jahr fiel die Wahl auf „Olive Kitteridge“ von Lisa Cholodenko, eine HBO-Miniserie, die einen Roman von Elizabeth Strout adaptiert. Frances McDormand spielt die Hauptrolle. Vor der Premiere am Montag nahm McDormand, berühmt geworden als schwangere Polizistin in „Fargo“, den „Persol Tribute to Visionary Talent Award 2014“ entgegen.
Während viele Filme im Wettbewerb eher hinken als beflügeln, bereitet die außer Konkurrenz gezeigte Serie großes Vergnügen. Nach jeder der vier Episoden reibe ich mir verdutzt die Augen, weil ich gar nicht glauben mag, wie rasend schnell sie vergangen ist. Von meinen Begleiterinnen, denen es genauso geht, lerne ich den schönen Begriff „binge watching“, rauschhaftes, gefräßiges Schauen.
„Olive Kitteridge“ spielt in einem Küstenstädtchen in Maine und erstreckt sich über 25 Jahre. Im Mittelpunkt stehen Olive, eine Lehrerin an der örtlichen Schule, und ihr Mann Henry, der Inhaber der einzigen Apotheke im Ort. Die beiden haben einen etwa 13 Jahre alten Sohn, Christopher, und führen, wie es scheint, ein durchschnittliches Leben in einem typisch neuenglischen Haus mit Garten. Obwohl sie keine materiellen Sorgen haben, ist dieses Leben hart. Cholodenko legt dies im Lauf der vier Stunden und über mehrere Zeitsprünge hinweg frei.
Die Figuren, allen voran Olive, stehen sich selbst im Wege. Sie finden keine Antworten auf die Fragen, wie man es mit sich selbst aushält, wie man die eigenen Neurosen in den Griff bekommt und wie man seinem Partner ein guter Gefährte ist und bleibt. Schlimmer noch: Olive stellt sich diese Fragen nicht einmal. „Erase it from your memory“, „Lösch es aus deiner Erinnerung“, ist ein Satz, den sie gerne sagt. Ihre Scharfzüngigkeit und ihr Witz schlagen immer wieder in Bitterkeit um, was Cholodenko in präzisen Momentaufnahmen einfängt. Etwa wenn der allzu ritterliche Henry seine Angestellte Denise (Zoe Kazan) im Familienwohnzimmer übernachten lässt, weil sie der Unfalltod ihres Ehemanns so mitnimmt. Olive hält ihm ein Kissen hin, während er die junge Frau liebevoll zudeckt, „dann sabbert sie wenigstens nicht auf unser Sofa“.
„Olive Kitteridge“ findet eine schöne Balance zwischen den komödiantischen und den traurigen Anteilen der Geschichte. Die Härte, die Olive gegen sich selbst und andere an den Tag legt, ist oft sehr lustig anzuschauen, die Nebenfiguren werden ernst genommen, und der psychologische Realismus weitet sich bisweilen, wenn Halluzinationen ins Bild gesetzt werden. Aus der spiralförmigen Schale eines Apfels kann eine grüne Schlange werden, aus dem Kopf von Olive ein Elefant. Außerdem ist schön, wie beiläufig Cholodenko Leitmotive etabliert, etwa die Blumen, die auf Kleidern und im Garten sprießen, oder das Essen, das eine große Rolle spielt, und wie elegant sie eine Affäre, die Olive beinahe hätte, erzählt, ein paar Blickwechsel und das eine oder andere verdruckste Nebeneinanderstehen genügen.
„Olive Kitteridge“ geht unerschrocken auf das große Thema Depression zu, auf diesen Zustand, den David Foster Wallace in seinem Roman „Der bleiche König“ einmal folgendermaßen beschrieben hat: Man ist allein auf einem Feld und spürt über sich die riesige, schwarze Schwinge eines riesigen, schwarzen Vogels, und man erkennt, dass man aus dessen Schatten niemals mehr heraustreten wird. CRISTINA NORD