: Goethes Geist in den Kulissen
RHYTHMUSWECHSEL Im Juni 1990, kurz vor der Währungsunion, gab das Nederlands Eurythmie Ensemble ein Gastspiel im goethezeitlichen Theater Bad Lauchstädt
VON HEIDE REINHÄCKEL
„In der Flut kultureller Ereignisse, die derzeit unser Land überschwemmt, konnten wir auch etwas ganz Eigenwilligem begegnen“, schrieb 1990 die Theaterkritikerin Marina Dafova in der Zeitschrift „Theater der Zeit“. Das kulturell Unbekannte war die anthroposophische Bewegungskunst Eurythmie.
Im Februar 1990 hatte die Eurythmie-Bühne des Goetheanums in Leipzig eine Aufführung gegeben, im April war das Stuttgarter Else-Klink-Eurythmie-Ensemble in der Berliner Staatsoper unter den Linden aufgetreten. Mit den beiden Ensembles gastierten zwei renommierte westliche Eurythmiegruppen in der untergehenden DDR. Doch nicht nur in den Großstädten konnte man auf die unbekannte Bewegungskunst treffen. Das Nederlands Eurythmie Ensemble aus Den Haag eroberte mit einem Auftritt in Bad Lauchstädt auch die ostdeutsche Provinz.
„Es war eine zauberhafte Umgebung. Das Goethe-Theater und die Kuranlagen waren nicht so heruntergekommen wie vieles andere“, erinnert sich Werner Barfod an den Juni 1990. Er hatte von 1972 bis 1997 die künstlerische Leitung und Intendanz des Nederlands Eurythmie Ensemble inne. Inmitten des Chemiedreiecks Bitterfeld-Buna-Leuna fiel Bad Lauchstädt mit seiner mühevoll restaurierten Altstadt tatsächlich auf.
Das kleine Sommertheater war 1802 in Goethes Gegenwart eingeweiht worden und ist heute das einzige erhaltene Theater aus der Goethezeit. Eine Woche vor der Währungsunion brachte das Eurythmie Ensemble aus Den Haag dort eurythmische Interpretationen von Schubert und Beethoven sowie eine szenisch gestaltete Lesung von José Vasconcelos Erzählung „Wenn ich einmal groß bin“ auf die Bühne. „Der Geist Goethes atmete noch in den historischen Kulissen“, beschreibt Barfol die zeitgenössische Atmosphäre. Bedenkt man, dass Rudolf Steiner selbst ja nicht nur Herausgeber der Goethe-Gesamtausgabe war, sondern vom alten Geheimrat zahlreiche Impulse für das Grundgerüst der Anthroposophie übernahm, gab es wohl kaum einen besseren Ort als Bad Lauchstädt, um die Eurythmie dem Osten nahezubringen. Kurz nach der bürgerlichen Revolution von 1989 fiel der kulturelle Impuls jedoch nicht bei allen Bewohnern des Bezirkes Halle auf fruchtbaren Boden.
Für die Mitteldeutsche Zeitung berichtete damals Margit Boeckh über die Reaktion des Publikums: „Von den nach der Pause merklich gelichteten Reihen gab es verhaltenen, zum Teil auch stürmisch trampelnden Beifall.“ Die Mischung aus Begeisterung und Befremdung schwingt auch in Dafovas kurzer Eurythmiebesprechung mit, wenn die Eurythmisten als „wie zum Leben erweckte antike Plastiken“ erscheinen: „Der Eurythmist hat seine Persönlichkeit und selbst seinen Körper abgelegt. Er scheint ihm nicht mehr zu gehören.
Emotionen und innere Bewegungen sind völlig ausgeschaltet.“ Boeckh schreibt in der Mitteldeutschen Zeitung über eine „ätherisch-weltabgewandte und irgendwie ferngelenkte Dynamik“: „Bei aller Zeitlosigkeit des Grundgedankens schien das Ganze als eine ziemlich fremde Botschaft aus den Zwanzigern, als Eurythmie eine tatsächlich junge, den Zeitgeist treffende Kunst war.“ Vielleicht entsprang diese Skepsis ja der politischen Umbruchsituation, aus der Müdigkeit an antiken Allegorien als versteckter Systemkritik und der Sehnsucht nach unverstelltem, individuellem Ausdruck?
Doch nicht nur die untergehende DDR war mit etwas Neuem konfrontiert. In Folge der Veränderungen nach 1989 löste sich auch das Nederlands Eurythmie Ensemble, das zu den angesehenen Eurythmieausbildungen zählte, Ende der 1990er Jahre nach zahlreichen Europa-Tourneen auf. „Auch der Westen hatte sich kolossal geändert, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse und die mentalen Folgen vom Ende des Kalten Krieges betrafen auch uns“, so Barfod.