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Archiv-Artikel

Weltrevolution? Heute nicht

Das Kreuzberger Antiquariat „Prometheus“ in der Wrangelstraße ist spezialisiert auf die Linke in all ihren Erscheinungsformen. Der Inhaber und frühere Aktivist Heiko Schmidt zieht Bibliophile und Politfans an, dem Kiez gefallen eher die Gartenbücher

Ware, die Schmidt aus weltanschaulichen Gründen zuwider ist, vertreibt er gar nicht

Von Nina Apin

Viertel nach zehn. Die Tür geht auf, ein Windstoß fährt durch die Flyer und Plakatrollen am Eingang. Ein junges Paar steigt die steilen Stufen hinab und bleibt vor einem Turm Bücherkisten stehen. Sie, mit Anorak und blonden Rastas, sieht sich um. Er, schwarz gekleidet, Brille, tritt vor und fragt knapp: „Ist MEW Band eins da?“ Nein, bedauert Heiko Schmidt. Band eins der Marx-Engels-Werke in 43 Bänden sei gerade nicht vorrätig.

„Marx/Engels ist ein Dauerbrenner, der ist immer schnell weg“, bemerkt Schmidt, als die frühen Kunden den Laden verlassen haben. Eigentlich öffnet das Prometheus-Antiquariat erst um 14 Uhr, der Inhaber und einzige Mitarbeiter ist nur so früh da, um Postbestellungen abzuarbeiten. Die blau gebundenen MEW-Bände aus dem Ostberliner Dietz-Verlag gehören bei Prometheus zur Grundversorgung ebenso wie die Suhrkamp-Beiträge zur Marx’schen Theorie und zahlreiche Einführungen in Dialektik und Demokratietheorie. Daneben Stalin, Mao, Gramsci, Adorno. Nur Baudrillard ist, so kurz nach seinem Tod, Mangelware.

„Die Linke in all ihren Erscheinungsformen“ beschreibt der 37-Jährige das Sortiment seines vollgestopften Ladens, den er seit 1994 in den Räumen einer ehemaligen Kohlenhandlung betreibt. Auf 100 Regalmetern, in Vitrinen und Kisten stapeln sich rund 5.000 Bücher zu Anarchismus, Sozialgeschichte, Arbeiterbewegung, aber auch Belletristik und Kunstbände, Grafiken und bibliophile Kostbarkeiten.

Schmidt, selbst überzeugter Linker und Bücherwurm, hat eine Nische zwischen trockener Politik und schöngeistigen Büchern gefunden. Als Politik- und Architekturstudent war er früher selbst in verschiedenen linken Gruppen aktiv. Später hat er sich von der Szene zurückgezogen. Heute ist Schmidt stolz darauf, dass zur Kundschaft, die sich zwischen Kistenstapeln durchzwängen muss, auch Wissenschaftler, Privatsammler und Kiezpublikum gehören. An einem beliebigen Tag bei „Prometheus“ zeigt sich die lesende Linke bei ihm als Kundschaft.

Elf Uhr: Ein wildgelockter Mann kommt am Arm einer Begleiterin herein und fragt nach neuen Surrealismus-Lieferungen. Schmidt konsultiert den Computer, findet einen schön illustrierten Band, rät aber vom Kauf ab, wegen der seltenen Schrifttype, in der das Buch gesetzt ist. Der Mann ist blind und muss die Literatur einscannen, um sie lesen zu können. „Anfangs bin ich ins Fettnäpfchen getreten und habe von tollen Illustrationen geschwärmt“, sagt er. Inzwischen achtet der Antiquar bei neuen Funden auf die Konvertierbarkeit in Braille, in seiner Kundenkartei hat er für den Blinden eine persönliche Suchliste angelegt: Dada, Aktionismus und französische Philosophie. Der exquisite Geschmack des Kunden lässt eine eigene Schriftstellertätigkeit vermuten, doch Schmidt fragt nicht nach. Diskretion sei in seinem Beruf Voraussetzung, sagt er, denn „literarische Vorlieben verraten mehr über einen Menschen als die Wohnungseinrichtung“.

Zum Glück ist Schmidt, der seit 17 Jahren in Berlin lebt, Hanseat: Distanz zu seinen Mitmenschen zu halten, fällt ihm nicht schwer. Die völlig unverständliche Zeitschrift für experimentelle Kulturanthropologie, die ihm zwei Jungphilosophen anbieten, nimmt er mit der gleichen undurchdringliche Miene entgegen wie die ständigen Fragen von Passanten nach Liebesromanen oder Gartenbüchern.

Nur bei Wünschen nach Esoterik und religiöser Literatur wird der Antiquar etwas unwirsch. Als erklärter linker Rationalist lehnt er jeglichen metaphysischen Hokuspokus ab. Schmidt versteht sich als Ideenhändler: Ware, die ihm aus weltanschaulichen Gründen zuwider ist, vertreibt er gar nicht.

Wenn er ein Buch nicht gut findet, verkauft er es billiger, auch wenn ihm der Kunde besonders sympathisch ist. Die merkantile Seite seines Jobs nimmt der Anarchist als notwendiges Übel hin. Es ginge im Kapitalismus nun mal nicht anders. Trotzdem kämpft er jeden Tag mit den Widersprüchen zwischen der Händlerexistenz und den eigenen politischen Ansprüchen. Nicht den Verlockungen der Warenwelt erliegen, obwohl der Laden seine Lebensgrundlage ist. Bloß kein Chef von Angestellten werden, auch wenn ihm das Geschäft langsam über den Kopf wächst.

Nur beim Sortiment kann Schmidt weitgehend nach seinem Gusto gehen, abgesehen von der Grundversorgung. Den bei Linksintellektuellen angesagten italienischen Philosophen Georgio Agamben führt er nicht, von Lenin nur das Nötigste, „aus persönlicher Abneigung“. Ökologie und Feminismus der 70er und 80er bewahrt er aus archivarischem Ehrgeiz auf, nachgefragt werden diese Gebiete nur noch selten. Das Herz des Antiquars aber gehört den libertären Strömungen. Rätebewegung, Anarchosyndikalismus und Kommune Eins nehmen deutlich mehr Platz im Regal ein als harte K-Gruppen-Pamphlete. „Für mir Unsympathisches ist der Platz zu knapp“, sagt Schmidt lakonisch und fegt mit der Hand ein paar Ausgaben der KPD/ML-Zeitung Roter Morgen beiseite.

Zwölf Uhr: Ein badischer Plakatsammler erscheint zum vereinbarten Termin. Zum Tausch hat er ein paar Bücher mitgebracht und weckt damit auch Schmidts Sammlerinteresse. Hingebungsvoll sichten der Antiquar und der Gewerkschafter, der 1.-Mai-Plakate sammelt, Kiste um Kiste, Rolle um Rolle. Schmidt kann sich für die exquisite Gestaltung und Typografie seiner eigenen Schätze so begeistern, dass der Sammler am Ende Plakate im Wert von 300 Euro kauft – darunter ein Plakat für das Pressefest der italienischen Kommunisten, das Marx auf einem Fahrrad zeigt.

„Die Marx-Engels-Ausgabe ist ein Dauerbrenner, die ist immer schnell weg“

Die Sammler sind, neben Bibliotheken und anderen Institutionen, die wichtigste Einnahmequelle des „Prometheus“. Sie geben auch die besten Geschichten her. Wenn er von seinen Sammlern erzählt, blüht der reserviert wirkende Antiquar auf. Mit sichtlicher Freude berichtet er von österreichischen Gewerkschaftern mit Faible für stalinistische Ölschinken und NVA-Uniformen. Von mit Honecker-Teppichen ausgelegten Privatarchiven und geheimen Lagern, in denen Socialistica-Sammlungen vor den Augen der Ehefrau verborgen werden. „Die Sammelkrankheit befällt ausschließlich Männer“, weiß Schmidt. Frauen arbeiteten wissenschaftlich mit den Büchern oder läsen sie einfach. Bei Männern aber nehme das Verhältnis zu Büchern zuweilen erotische oder zwanghafte Züge an. Es gebe Widmungsjäger, die jahrelang einem Katalog mit Randnotizen von Hanna Höch nachjagten, Sammler, die sich den selben Roman in allen verfügbaren Umschlaggestaltungen kauften, und Politfreaks, denen es um spezielle Sachgebiete gehe. Schmidt selbst war auch einmal vom Sammelvirus befallen, in seiner Wohnung stapelten sich politische Theorie und Exilliteratur neben Grafik und Buchkunst. Seit er den Laden hat, nimmt er nur noch mit nach Hause, was er auch liest. „Ich schätze ein gut gemachtes Buch, aber anhäufen muss ich nichts mehr“, sagt er, sichtlich erleichtert.

Halb drei. Schmidt, dem im muffigen Souterrain kalt geworden ist, sperrt den Laden zu und geht um die Ecke ins Café. Nach wenigen Minuten nähert sich ein junger Mann mit einer Bücherkiste. Ob Schmidt etwas davon gebrauchen könne? Der Antiquar greift hinein, die meisten Romane, Sachbücher und den Kamasutra-Bildband legt er mit einem Kopfschütteln beiseite. „Zehn Euro“, der Mann zieht zufrieden ab.

Zurück im Laden, packt Schmidt das Gekaufte in die Kiste mit Billigbüchern, die er jeden Nachmittag auf den Gehsteig stellt. Als Abwurfhalde für den literarischen Ballast, der bei Sammelkäufen auf Flohmärkten und bei Wohnungsauflösungen anfällt. Aber auch als Lockangebot für die Nachbarschaft. Im Gegensatz zu anderen, szenenäheren linken Buchläden und Antiquariaten will Schmidt mit einem niedrigschwelligen Angebot auch die Nachbarn aus dem Wrangelkiez erreichen. Die Kinder, die ihm Stinkbomben in den Laden werfen, gehören nicht dazu, auch von den Halbstarken vom benachbarten Internetcafé hat sich bisher noch keiner für Bauhausgrafik oder Engels begeistern können. Aber Sozialarbeiter oder Missionar will Schmidt nicht sein, sondern auf unaufdringliche Weise das Interesse der Anwohner wecken. Die Bücherkiste ist ein freundliches Angebot, mehr nicht. „Wenn jemand mit einem Gartenbuch reinkommt und dann beim Stöbern im Laden hängen bleibt, ist das ein Erfolg“, sagt er.

Wie zur Bestätigung betritt ein Herr im Blaumann den Laden und stöbert in der Nationalsozialismusforschungs-Ecke. Er kauft schließlich Alan Bullocks Hitler-Biografie, für den Sohn. „Was die im Schulunterricht lernen, reicht nicht.“ Schmidt freut sich, als ihm der Kunde das Geld in die Hand drückt. „Der war schon mal da“, sagt er. „Beim nächsten Mal kauft er bestimmt was für sich.“

Kurz vor Ladenschluss kauft tatsächlich jemand ein Gartenbuch aus der Wühlkiste. Auch er verweilt drinnen vor den Regalen. Doch der bereits ergraute Kunde klagt nur. Über das „Prometheus“-Sortiment – zu unpolitisch –, über Kreuzberg – auch nicht mehr wie früher–, über den Zustand der Linken im Allgemeinen. Der Antiquar dreht sich schweigend eine Zigarette. Als der frustrierte Alt-Linke draußen ist, sagt er: „Für Puristen ist das hier natürlich nichts.“ Aber wer sagt, dass Grafik und Buchkunst die Weltrevolution aufhalten? Dass sie eines Tages kommt und die Menschheit aus Unmündigkeit und Kapitalismus erlösen wird, daran glaubt er. Wann das sein wird? „Nicht mehr heute“, sagt er trocken und schließt die Ladentür ab.