: Gespenstisches Lagerdenken
In den Feuilletons werden die alten RAF-Schlachten erneut geschlagen. Diese Farce der Farce offenbart eine dumpfe Stagnation und intellektuelle Selbstgenügsamkeit
Klaus Kreimeier ist Medienwissenschaftler und war in den 70er-Jahren Funktionär einer maoistischen Kulturorganisation.
„Hass und Verwüstung“, „Der Staat schlägt zurück“ – so hat jetzt der Stern seine Serie über die RAF, gedrucktes Horrorkino in sechs Teilen, eröffnet. „Dreißig Jahre nach dem deutschen Herbst kehren die alten Gespenster wieder“, schreibt die Zeit und mischt hurtig beim Revival mit. In einem lesenswerten Beitrag sieht Felix Ensslin, Sohn Gudrun Ensslins, mit Jacques Derrida das „Gespenst der Freiheit“ heraufziehen: „Es ist die Geschichte einer Wiederkehr des Politischen – in der gespenstischen Anwesenheit einer anderen Welt.“
Eine Geisterbahnstimmung – verstärkt durch die gespenstische Abwesenheit der Betroffenen: Nach ihrer Freilassung vorgestern Nacht wird sich Brigitte Mohnhaupt der öffentlichen Wahrnehmung entziehen. Es scheint nahe liegend, das berühmte Diktum von Marx, wonach sich alle bedeutenden Dinge der Geschichte zweimal ereignen, einmal als Tragödie und das zweite Mal als Farce, auf die Lage zu beziehen. Aber waren nicht schon die Mordtaten der RAF selbst eine blutige, in ihrer politischen Erscheinungsform schaurig-groteske Farce? Die Tragödien des individuellen Terrorismus in der Geschichte der Linken, die „Propaganda der Tat“ russischer Zarenmörder im späten 19. Jahrhundert oder die „Philosophie der Bombe“ indischer, europäischer und amerikanischer Revolutionäre im frühen 20. Jahrhundert, waren um 1970 auch als romantische Erinnerung längst verblasst. Definitiv war der „politische Irrtum“ des linken Terrors seines Heroismus entkleidet und offenbarte seinen antihumanen Kern. Doch der Wahrheit, dass sie in ihrer Mitte das nackte Verbrechen ausgebrütet hatte, hat sich die Linke der Sechziger- und Siebzigerjahre (der Autor rechnet sich ihr zu) nie konsequent gestellt. Die radikalen Renegaten, die ihre politische Existenz aus ihrem Lebenslauf gestrichen haben, sind ihr ebenso ausgewichen wie diejenigen, die damals zum Marsch durch die Institutionen oder in diverse linksselige Betroffenheitskulte aufgebrochen und am Ende in einem gepflegten Lifestyle-Mainstream mit linkem Design angekommen sind.
Die Zeitmaschine spült dumpfe Stagnation ans Tageslicht: dreißig Jahre Theorieverweigerung, moralische Halbheiten, intellektuelle Selbstgenügsamkeit. Felix Ensslin überspringt kühn diese drei Jahrzehnte, wenn er auf hohem philosophischen Niveau einen neuen Ansatz riskiert: Terror und Gnade sei „die beunruhigende und unbequeme Möglichkeit“ gemeinsam, „dass die Welt, so, wie sie ist, nicht der einzige Logos ist, aus dem die Realität erschaffen werden kann“. Zu trauern sei auch um eine Zeit, „in der das Denken einer Alternative zur bestehenden Realität nicht nur möglich schien, sondern sehr verbreitet war“. Das Problem ist nur, dass solche Einsichten einer Linken nicht das Nachdenken abnehmen können, deren Trauerarbeit 1977 in klammheimlichem Sympathiegemurmel, in Tiraden des Selbstmitleids oder hysterischem Kampfgeschrei unterging.
Wir erleben eine Farce der Farce. Die Reflexe auf beiden Seiten gleichen einander wie ein faules Ei dem andern. Claus Peymanns wildes Fuchteln mit fünf Milliarden Entrechteten der Erde entspricht dem Automatismus, mit dem Markus Söder den RAF-Gefangenen Klar seiner antikapitalistischen Gedanken wegen bis ans Lebensende hinter Gitter verbannen will. Dass unsere Demokratie seit den Siebzigerjahren reifer, unser Umgang gesitteter geworden ist, scheint in solchem Schlachtenlärm vollkommen unterzugehen. Es ist das alte Lagerdenken vergangener Konflikte, das eine gespenstische Renaissance erfährt.
Dies rührt an die tieferen Schichten des Problems. Die RAF hat, solange sie bombte und mordete, dem linksrevolutionären Milieu von 68 seine eigene, vielfach menschenfeindliche Melodie vorgegeigt. Dass Lager- und Bunkermentalität in letzter Konsequenz Terror hervortreiben und politisches Handeln blockieren, war die furchtbare Lektion, die von den wenigsten angenommen wurde, weil sie ins Zentrum linker Projektionen traf. Wenn, wie Walter Laqueur schreibt, „kommunistische Einstellungen zum individuellen Terror immer die gleiche Zweideutigkeit“ gezeigt haben, wiederholte sich nun das Elend im Verhältnis der 68er zur RAF. Man lebte ja im hehren Bewusstsein, für komplexe Gesellschaftsanalysen zuständig zu sein – und erlitt nun, im eigenen „Lager“, das Trauma einer höchst gewaltsamen Komplexitätsreduktion. Uneingestanden sah die Linke, soweit sie auf Revolution setzte, Kernbestandteile des eigenen Denkens entblößt: ihr manichäisches, in Gut und Böse aufgeteiltes Weltbild, ihre oftmals holzgeschnitzte Dialektik, ihren religiösen Entwurf einer von Ausbeutung und Unterdrückung dauerhaft erlösten Welt. Doch einer „Anwendung“ der RAF-Erfahrung auf die eigenen intellektuellen Grundlagen und einer kritischen Überprüfung ihres ideologischen Apparats wichen die meisten Linken von 1968 beharrlich aus. Man hat den ganzen Krempel nur irgendwann kleinlaut weggeschmissen – und sich von nun an über die allgemeine Unübersichtlichkeit beklagt.
Das Scheitern der revolutionären 68er ist kein Stoff für Heldenepen – bis heute verblüfft allenfalls der halsbrecherische Voluntarismus, der so viele verleitete, die alten Tragödien, vom Untergang der Pariser Kommune bis zur Katastrophe der Dritten Internationale, als Farce nachzuspielen. Reform oder Revolution – mit dieser Frage hatte sich schon seit hundert Jahren die Arbeiterbewegung abgequält. Die Dissidentenjagden, die Schauprozesse, Koestlers „Sonnenfinsternis“, die Abrechnung Silones und vieler anderer westeuropäischer Linker mit dem „Gott, der keiner war“ – all dies war um 1968 längst Vergangenheit, von den Akteuren tragisch erlittene, von den Nachfahren vielfach unbegriffene Geschichte. Wir leisteten uns den Luxus, die ganze Story in neuen Kostümen noch einmal von vorn durchzubuchstabieren. Man mag nach dem Warum fragen – und findet die Antwort wohl wirklich nur bei Marx.
Wie bei normalen Menschen funktioniert auch bei Linken die Wahrnehmung selektiv. Zum Voluntarismus im Verhältnis zur Realität gesellte sich in der Geschichte linker Bewegungen die Neigung, die eigenen Niederlagen nicht zur Fehleranalyse zu nutzen, sondern sie zum Martyrium im Dienst der Sache zu adeln. Dem Klassenfeind anklagend die offenen Wunden zu zeigen: Seht her, heute haben wir verloren, aber morgen ist uns der Sieg! Wehleidiger Heroismus, der sich darin gefällt, noch in der Opferpose zu triumphieren – also ins Pathos getriebene Rechthaberei –, gehört zur linken Tradition: Kehrseite der Koketterie mit dem Terror oder einer halluzinierten Gewalt der „proletarischen Massen“. Schon Marx hatte die niedergemetzelten Proletarier der Pariser Kommune zwar kritisiert, sie aber gleichzeitig für alle Zeiten „im großen Herzen der Arbeiterklasse eingeschreint“. Seither ist die revolutionäre Theologie von Märtyrern bevölkert. Genug damit. Nicht der Terror von einst, sondern jeder Tag im globalisierten Kapitalismus der Gegenwart erinnert uns daran, dass die Welt, so, wie sie ist, nicht das letzte Wort sein kann. Gnade für Christian Klar – und dann Schluss mit der Geisterbahn.
KLAUS KREIMEIER