Menschenrudel und ein Eisbär der Herzen

Knut, Berlins erster Very Important Bear, hat Freigang. Tausende Besucher jubeln dem VIB zu. Wohlfühlstimmung wie bei der Weltmeisterschaft, Schlangestehen wie bei der MoMA-Ausstellung. Sämtliche Kamerateams der Hauptstadt belagern den Zoo

AUS DEM BERLINER ZOO BARBARA BOLLWAHN

Der Zoologische Garten in Berlin ist der artenreichste Zoo der Welt. Seit dem Wochenende ist dort eine Spezies zu beobachten, die in der freien Wildbahn nicht in ihrer Existenz bedroht ist und auch nicht unter Artenschutz steht: der Homo sapiens. Ganze Rudel verlassen ihre Hütten und zahlen 11 Euro, um eine bedrohte Art in Augenschein zu nehmen. Einen Eisbären. Von seinem Pfleger auf den Namen Knut getauft, nennen ihn die Boulevardzeitungen „Lord Knut“, „King Knut“ und „Der flauschige Angriff auf unsere Herzen“.

Es sind tausende, nein Millionen von eigentlich mit Verstand begabten Menschen, für die seit Knuts Geburt Klimawandel und Artenschutz ein persönliches Anliegen geworden sind. „Guck mal“, sagt ein Mann zu seiner Frau, als gleich hinter dem Eintritt ein tonnenschwerer Elefant in seinem Gehege zu sehen ist. „Da ist ein Elefant.“ Ungläubig schaut die Frau hin. „Ach, den hab’ ich gar nicht gesehen.“ Das Tier ist wahrscheinlich zu groß. Die Pupillen sind auf etwas Kleines fixiert. Das Paar reiht sich ein in den Strom ihrer Mitmenschen – allein zur ersten Vorführung vergangenen Samstag sind es mehrere tausend. Knut wird es am nächsten Tag sogar in London auf eine Zeitungstitelseite schaffen. In ganz Berlin sind an diesem Tag keine Kamerateams zu bekommen – alle Kameras sind im Zoo in Einsatz.

Eine Viertelstunde bevor es so weit ist, herrscht eine geradezu ehrfürchtige Stille. Eingepfercht harren sie geduldig aus und üben sich in innigster Verbundenheit. Männer streicheln ihren Frauen zärtlich über den Rücken. „Gleich kommt er.“ Eltern wissen ihre Kinder bei Wildfremden in guter Obhut. „Einmal ein Kind nach vorne! Vorsicht! Danke!“ Das Miteinander kennt keine Grenzen. „Gehen Sie ruhig vor mit ihren Enkeln“, sagt ein Großvater zu einem anderen Großvater. „Ich habe selbst neun Enkel. Da hat man Verständnis.“

Gebannt starren die Menschen auf das Gehege. Es besteht aus Felsen, einem Wasserbecken und kahlen Baumstämmen. Als ein Hubschrauber am Himmel erscheint, gehen die Blicke nach oben. „Guck mal“, sagt eine Frau zu ihrem Mann, „die filmen wohl auch von oben.“ Nichts scheint mehr ausgeschlossen. Die kräftig strahlende Frühlingssonne könnte hinter Graupelschauern und Schneeböen verschwinden. Die Menschen hätten keine Angst mehr vor einer Klimakatastrophe. Jetzt haben sie Knut und alles wird gut. Knut, den kleinen Eisbären, dessen Zwillingsbruder kurz nach der Geburt im Dezember starb. Dessen Mutter ihn nicht annahm und der deshalb von seinem Pfleger mit der Flasche aufgezogen werden muss.

Normalerweise sind es die Erwachsenen, die ihrem Nachwuchs sagen, wo es langgeht. Doch bei Knut ist alles anders. Kinder, die auf den Schultern ihrer Eltern sitzen, müssen ihnen die Welt erklären. „Beschreib doch mal, was du siehst!“, ruft ein Vater seinem Sohn zu. „Ich sehe einen ganz kleinen Eisbären. Er heißt Knut.“ „Ich sehe nichts.“ „Er läuft.“ „Ja?“ „Ist der winzig! Knut! Knut!“ „Ich sehe nichts.“ „Er war eben hinter dem Pfahl.“ „Oh.“ Eine Mutter zieht ungehalten an den Beinen ihrer Tochter. „Wieso lachen alle? Was macht er?“ „Er läuft einfach rum.“ Ein Großvater setzt Enkel Nummer eins ab und hievt Enkel Nummer zwei auf die Schultern. „Du sollst mir mal sagen, ob du den kleinen Bären siehst.“ „Der weiße?“ „Mein Gott, ich kriege gleich einen Herzinfarkt.“ Als der Eisbär unbeholfen versucht, aus dem Wasserbecken herauszukommen und immer wieder zurückrutscht, wissen sich die Menschen in ihrer Rührung und Ergriffenheit nicht anders zu helfen, als zu lachen. „Nicht lachen!“, ruft ein Kind empört. Sie hören tatsächlich auf zu lachen.

Der Homo sapiens ist eine unberechenbare Spezies. Nach einer halben Stunde kommt Aggressivität auf. „Hör auf mit dem Geflenne“, ranzt ein Vater seinen Sohn an. „Emilie!“, ruft ein aufgeregtes Muttertier mit spitzer Stimme. „Emilie! Emi!! “ Sie holt tief Luft. „Emilie Koche! Nach hinten kommen! So was kleines Blondes in einer rosa Jacke.“ Eine Frau stößt ihren Mann in die Seite. „Bin ich froh, dass wir keine Kinder haben.“ Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Straßen bevölkert sein werden von kleinen Knuts. Menschliche Knuts, die gefährlich werden können, wenn sie ausgewachsen sind.