: Nachrichten aus der verlorenen Zeit
Ein Drittel des Lebens: Aus Anlass der Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt nach 24 Jahren Mindesthaftzeit – ein Rückblick ins Jahr 1983
1983 war das „Internationale Jahr der Kommunikation“ und die Uferschwalbe war der Vogel des Jahres. Dreiviertel des Jahres verbrachte ich ohne Fernseher. Ich war nicht dagegen, sondern hatte einfach keinen. Auch die Sportschau vermisste ich nicht.
1983 gab es nur drei Programme. In Berlin außerdem noch französische und amerikanische Soldatensender. Wenn man keinen speziellen Decoder hatte, sahen die AFN-Bilder romantisch verschneit aus, wenn man sie betrunken in der Nacht anmachte.
Am 6. März hatte es vorgezogene Neuwahlen in der BRD gegeben. Die FDP hatte zuvor – „recht erinnerlich“, wie wir Medienidioten heutzutage zu schreiben pflegen – den Koalitionsvertrag mit der zuvor herrschenden SPD gebrochen. Ich las die meiste Zeit Cioran, während die Grünen mit 5,6 Prozent der abgegebenen Stimmen zum ersten Mal in einen Bundestag reinkamen. Man freute sich, weil man dachte, sie wollten etwas Schönes und Anderes. Die SPD fiel mit 38,2 Prozent erstmals seit 1965 unter die 40-Prozent-Marke. Die CDU bekam 48,8 Prozent.
Am 6. Mai hatte der Stern dann die Tagebücher Hitlers veröffentlicht. Am 9. Mai wurde Galileo Galilei von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert. Am 6. Juni erblickte Aids nach einem Aufmacher des Spiegel das Licht der breiten Öffentlichkeit. Am 22. Juli wurde der Kriegszustand in Polen beendet. Am 22. Oktober demonstrierten Hunderttausende im Bonner Hofgarten gegen die Nachrüstung. Vermutlich werden Bands wie Bots oder BAP gespielt haben; vielleicht hatte Heinrich Böll auch klärende Worte gesprochen. Ideologisch eher Sad-Punks, hatten wir dicht vor der Bühne gestanden und uns totgelacht über das, was wir „Friedensgewinsel“ genannt hatten. Als Teil von etwas war man gleichzeitig immer dagegen.
Am 23. Oktober werden bei einem Anschlag auf einen US-Stützpunkt in Beirut 241 US-Marines und 58 französische Fallschirmspringer getötet. Am 30. Oktober hatte es die ersten freien Wahlen in Argentinien gegeben. Obgleich wir Zivildienstleistenden dagegen streikten, billigte der Deutsche Bundestag am 22. November die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik. Die grünen Anführer hatten persönliche Erklärungen abgegeben, die man gleichzeitig richtig, aber auch superpeinlich und weinerlich fand.
Aber die Dinge, die im Internet stehen, sind Sachen, die im eigenen Leben meist nicht wirklich wichtig waren. Also: 1983 hatte ich wohl Abitur gemacht und war dann nach Kiel zum Zivildienst gezogen und hatte in den Nachtwachen Tee trinkend und kettenrauchend „Das Sein und das Nichts“ von Sartre gelesen. Und zum zweiten Mal die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Und Cioran und die Frankfurter Rundschau. Damals war ich viel allein, mein Lebensziel war Philosophiestudent und manchmal waren wir nach den Nachtwachen baden gefahren. Der Sommer war wohl schön gewesen.
Damals hatte der Zivildienst noch 16 Monate gedauert. Ich nahm keinen Urlaub, machte viele Nachtschichten. So war ich schon nach 13 Monaten fertig und hatte vor allem genug Geld, um mir in Berlin eine Wohnung suchen zu können.
Die Alternativszene war 1983 noch halbwegs intakt. Es war ganz normal, durch die Gegend zu trampen. Ich trampte viel und lernte eine Freundin auf irgendeiner Ausfahrt kennen. Bärbel war meine erste Freundin. Sie zeigte mir, wie Liebe geht, aber die Cafés und Discotheken wirkten eher kühl. Die Zeit der Neuen Deutschen Welle war am Abklingen. Das Album „Opel Gang“ von den Toten Hosen kam raus. Ihre Auftritte waren großartig. David Bowie hatte mit „Let’s Dance“ einen Superhit und machte seine „Serious Moonlight“-Welttournee. Ich war auf drei dieser Konzerte und konnte alle Lieder mitsingen. Außerdem erschien Foucaults erster Band von „Sexualität und Wahrheit“ auf Deutsch; Rainald Goetz hatte seinen Auftritt beim Bachmannpreislesen in Klagenfurt und veröffentlichte seinen Roman „Irre“; Tarkowskis „Nostalghia“ guckte ich fünfmal und Rosa von Praunheims „Stadt der verlorenen Seelen“ bestärkte mich darin, nach Berlin gehen zu wollen. „The Message“ von Grandmaster Flash, das großartige Soft-Cell-Album „Non-Stop-Ecstatic Dancing“, der tolle Auftritt von Grateful Dead beim Rockpalast und mein Lieblingsfilm von Herbert Achternbusch – „Der Depp“ – waren ein Jahr früher. Und „Purple Rain“ von Prince sollte erst ein Jahr später erscheinen.
Wenn das Fenster am Vormittag auf ist, kommt mir 1983 manchmal wie gestern vor. Furchtbar gern würde ich zurück nach 1983 reisen. Heute ist doof; damals war prima. Nur leider hatte man das nicht gewusst.
DETLEF KUHLBRODT