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Archiv-Artikel

Wie viel Platz in einer Küche ist

LIDOKINO 10 Egal wie die Jury des Filmfestivals Venedig am Samstagabend entscheiden und die Preise vergeben wird, unsere Korrespondentin empfiehlt „Court“. Eine indische Produktion des Jungfilmers Chaitanya Tamhane aus Mumbai

Am Samstagabend werden in der Sala Grande der Goldene und der Silberne Löwe und die übrigen Preise vergeben. Wie in jedem Jahr ist es müßig, darüber zu spekulieren, welcher Film eine Auszeichnung erhält und welcher nicht. Wer wüsste schon zu sagen, wie der Jurypräsident, der Filmkomponist Alexandre Desplat, auf Filme blickt? Und wie er darüber mit den anderen Juroren – unter ihnen die österreichische Regisseurin Jessica Hausner und der palästinensische Filmemacher Elia Suleiman – diskutiert? Statt Mutmaßungen anzustellen, möchte ich lieber von einer schönen Überraschung berichten, die ich am Nachmittag des zweitletzten Festivaltags erlebte.

Ein Presseagent legte mir einen indischen Film in der Orizzonti-Sektion ans Herz. Weil dies die Aufgabe von Presseagenten ist, hat eine solche Empfehlung für gewöhnlich wenig Wert. Doch hier war es anders. „Court“ ist etwas Besonderes, umso mehr, als Regisseur Chaitanya Tamhane 27 Jahre alt ist und sein Debüt vorlegt. Der Film spielt in Mumbai. Ein älterer Herr namens Narayan Kamble (Vira Sathidar) tritt auf kleinen Bühnen auf, wo er Lieder mit kulturkritischen Texten zum Besten gibt. Weil eines dieser Lieder einen Kanalarbeiter zum Selbstmord angestachelt haben soll, wird er verhaftet. Nach der Anhörung vor dem Haftrichter wird der Fall an ein Gericht verwiesen, das einem deutschen Amtsgericht entsprechen dürfte. Tamhane verfolgt die Verhandlungen und setzt Ausschnitte aus dem Leben der vier zentralen Figuren in Szene: des Angeklagten, der Staatsanwältin, des Verteidigers und des Richters. Man sieht, wie Zeugen befragt werden, wie der Anwalt Nachforschungen in der ärmlichen Nachbarschaft anstellt, in der der Kanalarbeiter lebte; ein Polizist tritt in den Zeugenstand und äußert Halbwahrheiten ohne Scham, der Richter diktiert der Schreiberin, was sie protokollieren soll, die Willkür ist allgegenwärtig, aber sie wird nicht so inszeniert, dass man nur mit Empörung auf sie reagieren könnte. Mehrmals wird der Fall vertagt, Narayan Kamble ist die meiste Zeit in Haft, was „Court“ ins Off verschiebt.

Die Kamerafrau Mrinal Desai wählt gern die Totale. Ihr ruhiger, fast dokumentarischer Blick hält die Akteure auf Distanz, erfasst dafür aber große Teile des Geschehens im Gerichtssaal. Wenn etwa beim Haftrichter Gedränge herrscht, wird deutlich, über wie viele Fälle an einem Tag entschieden wird. Viel erfährt man über die Beschaffenheit des Justizsystems, die Unordnung in den Akten, die Kleidung der Akteure, Wände und Möbel. Die Aufnahmen von Wohnungen und die wenigen Außenszenen machen viele Details sichtbar. Wie viel Platz ist in einer Küche? Wie viel Sonnenlicht dringt in eine Nachbarschaft? Subtil erzählt Tamhane von den ökonomischen Unterschieden, die Mumbai durchziehen, und er modelliert das Nebeneinander der drei Sprachen Hindi, Marathi und Englisch. Man ahnt, dass deren Verwendung jeweils etwas über Schicht und Herkunft verrät, ähnlich wie der Besuch eines vegetarischen Restaurants. CRISTINA NORD