: Kein Platz für Kinder
Kinder, die im Kindergarten darauf angewiesen sind, dass Erwachsene besonders auf sie achten, haben in Bremen schlechte Karten. Besonders hart trifft es Diabetes-Kinder und Autisten
von Eiken Bruhn
Möglichst „normal“ sollten Kinder sein, wenn ihre Eltern sie in eine Bremer Kindertagesstätte geben möchten. Am besten kerngesund, körperlich, geistig und seelisch unauffällig, in jedem Fall sollten sie so wenig Betreuungsaufwand wie möglich verursachen, weil eine Erzieherin in Bremen in der Regel 20 Kinder zu betreuen hat. Andernfalls müssen sie sich seit einigen Jahren darauf einstellen, dass ihr Kind keinen Platz bekommt oder sie die Stadtgemeinde verklagen müssen, damit diese die Kosten für eine zusätzliche Betreuung übernimmt. Rund 130 solcher Klagen hat der Bremer Rechtsanwalt Matthias Westerholt gegen Bremen geführt, ein Drittel davon hat er verloren, ein weiteres Drittel gewonnen und in einem weiteren Drittel hat das Sozialressort seine Entscheidung freiwillig rückgängig gemacht.
Als besonders dramatisch wertet Westerholt die ablehnenden Bescheide für zwei Gruppen von Kindern: Solche, die an Diabetes erkrankt sind und Autisten. Einige dieser Kinder bräuchten jemand, der ihnen im Kindergarten-Alltag zur Seite steht, argumentiert Wilhelm Haase-Bruns, leitender Behindertenpädagoge der evangelischen Kirche. Diese hat Kinder aufgenommen, obwohl klar war, dass sie eine persönliche Assistenz brauchen, deren Finanzierung ungeklärt ist. In einigen Fällen werde die Kirche das vorgeschossene Geld nie wiedersehen, sagt Haase-Bruns, weil Kommune und Verwaltungsgericht der Ansicht sind, dass die Assistenz nicht nötig sei. Selbst wenn auch das Gesundheitsamt – das mittlerweile weit weniger Kindern Hilfebedarf attestiert als früher – das anders sieht. So ist nach Auffassung des Gerichts eine 1:1-Betreuung für einen sechsjährigen autistischen Jungen eine überzogene Forderung, um ihn könnten sich auch andere Erwachsene kümmern, wenn diese gerade Zeit hätten. Haase-Bruns hält dem entgegen, dass die persönliche Assistenz dem Jungen die Chance gebe, seine sozialen Kompetenzen auszubauen und nicht auf seinem zurückgebliebenen Entwicklungsstand stehen zu bleiben. „Er kann Alltagssituationen nicht einschätzen“, erzählt Haase-Bruns. Damit gefährde er sich und andere Kinder. Er habe erlebt, wie solche Kinder mit Hilfe einer festen Bezugsperson – häufig Zivis, weil sie nicht so viel kosten – üben können, welche Reaktionen angemessen sind. „Früher sind solche Kinder einfach ruhig gehalten worden, zur Not auch mit Fesselung“, sagt der Behindertenpädagoge. Er empfindet es als „grausam“, um erfolgreiche Fördermaßnahmen kämpfen zu müssen, die auf lange Sicht sogar kostensparend sind, weil die Betroffenen selbständiger sind.
Ähnlich verhält es sich mit den Diabetes-Kindern: Auch hier zahlt die Kirche aus eigener Tasche die persönlichen Assistenzen. Die Behörde hat vor Gericht die Ansicht vertreten, dass die Kinder von den Erzieherinnen mitbetreut werden können. Diese könnten – wenn die Krankenkasse oder die Eltern dies nicht übernehmen – auch den Blutzucker messen. Eine Ansicht, die Haase-Bruns nur bedingt teilt. Bei einigen Kindern mit einer minder schweren Diabetes sei dies durchaus möglich, auch das Messen den Blutzuckers sei relativ unproblematisch. Das Problem sei, dass kleine Kinder, Drei- und Vierjährige, noch lernen müssten, auf Warnsignale ihres Körpers zu achten. „Stellen Sie sich vor, ein Kind tobt, ist danach im Unterzucker und verkriecht sich in eine Kuschelecke, ohne dass jemand das merkt, weil sich Kinder eben manchmal verziehen, wenn sie müde sind.“ Die Horrorvorstellung für ihn: Das Kind kollabiert, trägt bleibende Schäden davon. Oder stirbt. Haase-Bruns hält es für unverantwortlich, dieses Risiko einzugehen, den MitarbeiterInnen zuzumuten, dass so etwas in ihrer Gruppe passiert. Auch die andere Lösung – die Kinder nicht aufzunehmen oder nach Hause zu schicken, wenn niemand da ist, der aufpassen kann, kommt für ihn nicht in Frage. „Ausgerechnet die Eltern und Kinder bestrafen, die ohnehin schon gebeutelt sind?“ Nicht gelten lassen mag er den Vorwurf, die Kirche versuche sich auf diesem Wege Zweitkräfte für die Gruppen zu erschleichen. „Es geht nur um einen kleinen Teil, vielleicht acht Prozent aller Kinder in Bremen.“ Dazu zählt er auch noch Kinder einer dritten Gruppe, für die es derzeit überhaupt keine Lösung gibt, weil sie nur verhaltensauffällig, aber nicht behindert sind.