: Es blühten auch die Kastanien
TSCHERNOBYL Niemand in der Ukraine sollte wissen, was in diesem verfluchten Atomkraftwerk geschehen war. Erinnerungen einer Nachgeborenen an das Jahr 1986
■ Die Chronik der Explosionsminute und die Physik dazu: www.grs.de/content/tschernobyl
■ Die Folgen bis heute: www.strahlentelex.de/Tschernobyl-Folgen.htm, auch in Deutschland: www.ippnw.de/atomenergie/atom-gesundheit/tschernobylfolgen.html
■ Die Kunst aktuell in Tschernobyl, das Manifest zum Welt-Mahn-Erbe: www.shine-projects.org,
■ Wissenschaftler aus den USA zu Atomenergie, nebst Subventionen, Krebsraten und Technikfragen: www.ucsusa.org/nuclear_power (Union of Concerned Scientists)
VON IRYNA BURTSEVA
Es ist Mitte April, acht Uhr morgens. Ich gehe in Berlin die Bismarckstraße entlang, stelle den Player an und schotte mich von der Außenwelt ab – ich habe noch zwanzig Minuten Fußweg vor mir. Von der Seite betrachte ich die Schönheit der Natur. Einige Bäume blühen bereits, andere haben schon junge Blätter hervorgebracht. Plötzlich fällt mein Blick auf eine meinem Herzen so teure und vertraute Kastanie – konzentriert betrachte ich die winzigen Zapfen, die bald in den Farben Weiß, Gelb und Rosa aufflammen werden.
Auch damals blühten die Kastanien, die Natur stand in voller Blüte, die Menschen bereiteten sich auf die Feiertage vor, und nichts, absolut überhaupt nichts kündigte die Katastrophe an, die am 26. April 1986 über die Menschheit hereinbrechen sollte – der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl.
An was erinnere ich mich, denke ich an damals, an die Zeit vor 25 Jahren? An nichts, weil ich erst danach geboren wurde, nichtsdestotrotz in diesem unglückseligen Jahr 1986. Im Gedächtnis unserer Generation geblieben sind der schlechte Ruf Tschernobyls sowie eine riesige Menge an Radioaktivität, über die niemand etwas Genaues wusste.
Oft bitte ich meine Eltern: „Erzählt mir von Tschernobyl.“ Mein Vater antwortet ständig ein und dasselbe: dass er zu dieser Zeit seinen Wehrdienst ableistete, weit entfernt vom Ort der Tragödie. Dennoch erinnert er sich noch gut daran, wie ganze Einheiten von Soldaten abkommandiert und eilends dafür abgestellt wurden, die Pionierlager in Ordnung zu bringen – für die Kinder aus der Tschernobylzone.
Mama erinnert sich nur ungern an 1986 – für uns war das ein schweres Jahr, ehe ich ganz auf die Welt kam. Nach der Tragödie und den Maifeiertagen (in unserem Land feiern wir den 1. Mai und den „Tag des Sieges“ am 9. Mai) musste meine Mutter, die schon mit mir schwanger war, meine Großmutter aus Kiew abholen. Sie lag dort nach einer Operation im Krankenhaus. Die Fahrkarte dorthin, Lugansk–Kiew, hatten ihr Bekannte besorgt, aber für die Rückfahrt nach Lugansk gab es keine Tickets. Also brachte wiederum eine Bekannte meine Mutter zu der Schaffnerin des Zuges. Diese erklärte sich bereit zu helfen, ging zum Bahnhof und kaufte zwei Fahrkarten für sich.
Die Plätze waren schrecklich, es waren die oberen Pritschen im Schlafwagen. So wurde die Fahrt anstrengend, wurde mir erzählt. In der Nacht bekam die Großmutter Durst, und Mama ging in den Restaurantwagen, um Wasser zu kaufen. Als sie so durch die Waggons lief, war sie überrascht: Nirgends gab es einen freien Platz, die Leute saßen sogar auf dem Boden. Nur ein Waggon war vollkommen leer – nicht eine einzige Menschenseele war in ihm. Der ansonsten überfüllten Waggons wegen blieb ihr dieses „Phantom“ immer im Gedächtnis. Für wen war dieser Wagen bestimmt? War er für Menschen zur Verfügung gestellt worden, die man man aus der Zone evakuiert hatte?
Was passierte eigentlich damals? Die Menschen kannten die Wahrheit nicht. Man sagte nur, etwas sei geschehen: eine Explosion oder ein Brand im Atomkraftwerk. Damals hatte der Normalbürger nur eine vage Vorstellung davon, wodurch sich ein Atomkraft- von einem Elektrizitätswerk unterscheidet. Klar war nur: Etwas geht vor sich, und zwar etwas Ungutes. Und so wurden Massen (freiwillig oder mit Zwang) von Liquidatoreneinheiten vorbereitet – von Menschen, die helfen sollten, die Folgen des Unglücks zu beseitigen.
Mein Patenonkel arbeitete zu jener Zeit als Fahrer bei der Miliz. Fast seine ganze Einheit wurde sofort nach Kiew geschickt. Dort arbeitete er im Stab, er selbst hatte keinen Passierschein für die isolierte Zone. Mit einem Zittern in der Stimme erinnert sich mein Patenonkel noch heute an die düsteren Gesichter der körperlich erschöpften Jungs, wenn sie, einer nach dem anderen, aus der Zone zurückkehrten.
Gut im Gedächtnis ist mir noch meine Physiklehrerin Swetlana Nikolajewna Fetisowa, deren Mann alsbald nach den Ereignissen im AKW Tschernobyl an Krebs gestorben war. Er war Atomphysiker und wurde gleich nach der Tragödie zum Katastrophenreaktor geschickt, um das Ausmaß des Unglücks zu untersuchen. Die Ausrüstung, mit der er ankam, hielt den Belastungen nicht stand. Die Messgeräte schlugen weit jenseits des Grenzbereichs aus. Dort hätten sich überhaupt keine Menschen aufhalten dürfen. Dem Atomphysiker wurde nahegelegt, vernünftig zu sein und niemanden in Einzelheiten einzuweihen. Um jegliche Panik zu vermeiden, verbot man ihm und seiner Familie, Lugansk zu verlassen.
Als unsere Lehrerin uns davon erzählte, waren wir noch zu klein, um ihre Wort allzu ernst zu nehmen. Seit dem Unglück waren 15 Jahre vergangen – Tschernobyl erschien uns wie eine schreckliche Erinnerung aus unserer Kindheit, nicht mehr. Und auch nur deshalb, weil eine unserer Mitschülerinnen, Sweta Powarenkowa, jedes Mal weinte, wenn sie das Wort „Tschernobyl“ hörte. Ihr Vater war sehr jung vor ein paar Jahren gestorben, er war einer von ihnen – den Liquidatoren. Deshalb war Sweta die Einzige aus unserer Klasse, die jedes Jahr im Sommer nach Spanien in eine Gastfamilie fahren durfte – weil ihr Vater ein Liquidator war, galt sie als „Tschernobyl-Kind“.
Vor kurzem wurde in Berlin eine Ausstellung eröffnet, die dem 25. Jahrestag des Unglücks im Atomkraftwerk Tschernobyl gewidmet ist. Dort trat auch ein Liquidator auf, Wladimir Usatenko. Er war verblüfft, als Journalisten ihm folgende Frage stellten: Konnte man sich auch weigern, als Liquidator nach Tschernobyl zu gehen?“ „Man konnte“, lautete die Antwort, „doch dazu war es zunächst notwendig, sein Parteibuch zurückzugeben.“ Ja, das hätte jedoch bedeutet, dass fortan im Leben alle Türen verschlossen bleiben würden.
Die Todeszone ist heutzutage zu einem populären Ort geworden – Touristen reisen dorthin – ungeachtet des hohen Preises solcher Exkursionen. Tschernobyl, das ist ein Ort für Extremtourismus. Zum Pflichtprogramm gehört auch der Besuch einer Schule, wo auf einer Tafel mit Kreide geschrieben steht: „Es gibt keine Rückkehr. Verabschiede dich, Pripjat. 28. April 1986.“ Die Besichtigung eines Kindergartens, wo ein Tourist einem alten Plüschbären eine Gasmaske aufgesetzt hat; das abendliche Zusammensein mit einem der freiwilligen Tschernobyl-Rückkehrer, der den Gästen freudig Selbstgebrannten anbietet; und der Besuch der örtlichen Kirche, wo kein einziger Apparat auch nur die kleinste Spur von Radioaktivität anzeigt.
Wahrscheinlich ist dieses alles der Grund dafür, dass man bei der Ukraine nicht als Erstes an die Gebrüder Klitschko, den Fußballer Andrei Schewtschenko oder die Eurovisionssiegerin Ruslana denkt, sondern klar und deutlich an das, was sich auf ewig in das Gedächtnis der anderen Völker eingebrannt hat: „Die Ukraine, das ist Tschernobyl.“
Ich frage meine Mutter: „Wenn du damals, 1986, die ganze Wahrheit über Tschernobyl gekannt hättest, hättest du mich dann trotzdem auf die Welt gebracht?“ Mama zögert mit der Antwort: „Weißt du, jeder Mensch verdrängt das Schlechte auf seine Art und Weise. Wahrscheinlich war es besser, dass wir so wenig wussten. Sonst wäre ich aus Angst um dich wohl einfach verrückt geworden.“
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
■ IRYNA BURTSEVA, am 23. September 1986 in Lugansk, Ukraine geboren, schreibt für die Zeitung XXI. Jahrhundert. Sie führt derzeit Interviews für ein Buch über Ukrainer, die nach der Katastrophe geboren wurden. Mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung arbeitet sie aktuell für die taz