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Archiv-Artikel

Der sprechende Baum

Vom eigenen Arbeitszimmer zum Raum der vielen Stimmen: In der Ausstellung „A Room of One’s Own“ im Kunstraum Kreuzberg nehmen Künstlerinnen mit Virginia Woolf die Begrenzungen ihrer Identität in den Blick

Einen Raum. Ein eigenes Zimmer, ganz für sich allein. Und ein Grundeinkommen, das Unabhängigkeit von Ehemännern und Gönnern garantiert. Als Virginia Woolf 1928 an der Universität Cambridge einen Vortrag zum Thema „Frauen und Fiction“ hielt, sprach sie statt über Literaturgeschichte zuallererst über die ökonomischen Grundvoraussetzungen, die erfüllt sein müssten, damit Frauen überhaupt künstlerisch arbeiten könnten. Ihr Essayband „A Room of One’s Own“ wurde zu einem Manifest der Emanzipation.

Die von Nanna Lüth konzipierte Ausstellung „A Room of One’s Own / Mehr als ein Zimmer für sich allein – Arbeit/sräume und Geschlecht“ im Kunstraum Bethanien führt die Überlegungen der englischen Schriftstellerin weiter. Neun Künstlerinnen aus Berlin und Brüssel erhielten hier je einen Raum zur Gestaltung.

Kerstin Drechsel kleidet den Raum mit Gemälden aus. „Unser Haus“ ist ein neonfarbenes Zitate-Potpourri ihrer Wohnungseinrichtung, vollgestopft mit Videos von „Casablanca“ bis „Stalker“, Zeitschriftenstapeln und chinesischen Winkekatzen. Der Produktionsraum funktioniert hier wie ein Etikett, das vor allem die Interessen der Produzentin auszeichnet.

Tine van Aerschot „kachelt“ eine Wand mit dem Abbild einer norwegischen Landschaft. Der dicke Wachsüberzug verleiht der in quadratische Platten zerschnittenen Fotografie eine nebulöse, ungreifbare Realität. Sie ist die Antwort auf ein Zitat von Trevor Wells an der gegenüberliegenden Wand, das sich mit der Nicht-Erfassbarkeit der Realität beschäftigt und ihrer Verformbarkeit durch das Bewusstsein. Mit Trevor Wells erfand sich Tine van Aerschot ein im Virginia-Woolf-Jargon sprechendes, männliches Alter Ego und damit die Möglichkeit, der eigenen eine zweite Stimme beizumischen.

Solche männlichen Alter Egos liebte Virginia Woolf. Die Hauptfigur in „Orlando“ wechselt durch die Jahrhunderte immer wieder ihre sexuelle Identität. Die Autorin stellte lakonisch fest: „what a difference a tail makes“. Der Begriff lässt sich wörtlich als männliches Geschlechtsorgan oder phonetisch wie „tale“, als Geschichte/Erzählung, lesen.

Nanna Lüth selbst beschäftigt sich mit der Vorprägung von Geschlechtsidentitäten durch die Wissenschaft. In ihrer Arbeit „A Tree/Body/Trouble of One’s Own“ greif sie auf Schaubilder aus wissenschaftlichen Publikationen zurück, die als Bodenmalerei oder Deckenprojektion zu sehen sind. Mendelschen Stammbäumen und Schaubildern zur Vermehrungslehre setzt sie einen realen Baum entgegen, aus dem Stimmen ertönen. Hier sprechen Menschen über ihre sexuelle Identität. Die Stimmen sind vielfältig und ungreifbar, aber zugleich lebendiger als die männlich geprägten Systematisierungen der Schaubilder. Aus einem stilisierten Lebensbaum sprießen als Äste, Zweige und Blätter Pädophilie, Sadismus und Zoophilie. Diese Anomalien entspringen der als Yin und Yang geformten Wurzel, die sich aus Homo- und Heterosexualität bildet, und mithin überhaupt erst aus der Definition dessen, was Sexualität sein kann.

So wird allmählich klar, dass der „eigene Raum“ heute nicht mehr nur ein Atelier und Ungestörtheit bedeutet. Er meint auch einen diskursiven Raum, den es zu besetzen gilt, und das geschieht in den Werken. Die Künstlerinnen arbeiten sich an schon geprägten Begriffen ab, Geschlechterzuschreibungen werden bloßgestellt und zersetzt. Die subjektive Wahrnehmung wird, mehrfach gebrochen, über die Abbildbarkeit der Realität gesetzt. Damit aber stehen die Künstlerinnen im Kontext einer Zeit des pluralistischen Stimmengewirrs. Letztlich haben die binären Strukturen, auch die der Geschlechterzuschreibungen, schon ausgedient. Es ist keine Zeit für Manifeste. Dafür bedarf es der Eindeutigkeit. So stehen viele Stimmen nebeneinander – und verweisen nur wie ein Netzwerk aufeinander. CLAUDIA WENTE

bis 15. April 2007, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, Berlin, täglich 12–19 Uhr