: Suche nach dem „gerechten Lohn“
Deutschland steckt in der Entgeltkrise. Ein Arbeitslohn sollte „Verdienst“ sein und nicht nur abhängig von Konkurrenzdruck und Marktlage. Neue Absicherungen müssen her
Barbara Dribbusch ist im Inlandsressort der taz zuständig für Sozialpolitik. Sie beschäftigt sich mit den Machtverhältnissen an den Schnittstellen von Wirtschaft und Gesellschaft und den dadurch mitgelieferten Glaubenssystemen.
„Verdienen Sie, was Sie verdienen?“, lautet der Titel eines Ratgebers, der Tipps gibt zur persönlichen Gehaltsverhandlung. Was ein gerechter Lohn sei, in dieser Frage steckt heute besonderer Zündstoff. Das zeigt nicht nur der Streit um die Mindestlöhne.
Noch nie wurde an so vielen Fronten über die Lohnfrage diskutiert wie heute. Da sind die aktuellen Tarifverhandlungen in der Metallindustrie. Dann sorgen die Managergehälter für Unbehagen, weil die Vorstandsmitglieder der DAX-Unternehmen in nur sechs Jahren ihre Bezüge verdoppeln konnten. Die Mindestlohndebatte schließlich ist für Normalbürger nur noch mühsam zu verstehen: Da geht es einmal um das gesetzliche Verbot „sittenwidriger Löhne“, dann wieder um tariflich festgeschriebene, nach Branchen gestaffelte Mindestlöhne und schließlich um eine einheitliche Lohnuntergrenze für alle.
Deutschland steckt in einer Entgeltkrise. Das Gerechtigkeitsempfinden ist infrage gestellt, dass Arbeitsentgelt ein „Verdienst“ sein sollte, etwas zu tun haben sollte mit der Anstrengung, dem Opfer, der Leistung. Gefährdet ist auch die Gewissheit, dass ein Vollzeitjob die Existenz sichern kann.
4,6 Millionen Erwerbstätige bekommen in Deutschland weniger als 7,50 Euro brutto die Stunde. Das sind zwar mehrheitlich Teilzeitkräfte und Minijobber, aber natürlich bleibt es ein Niedriglohn. Gerade weil es so wenig Geld gibt, werden diese Tätigkeiten ja häufig als Minijobs von SchülerInnen, RentnerInnen und Ehefrauen ausgeübt, also gewissermaßen quersubventioniert durch Familieneinkommen oder Rente.
Noch heikler wird es, wenn man jene Million Vollzeitbeschäftigte betrachtet, die unter 1.000 Euro brutto verdienen. Das ist ein Nettoeinkommen von 780 Euro – erheblich weniger als die gesetzliche Pfändungsgrenze von 990 Euro netto, die als Selbstbehalt angesehen wird, wenn jemand verschuldet oder unterhaltsverpflichtet ist.
Durch einen Vollzeitjob nicht mehr die eigene Existenz sichern zu können – das setzt alle herrschende Arbeitsmoral außer Kraft. Dabei geht es nicht nur darum, vom Lohn zu überleben und teilzuhaben. Die Politik fordert von den Menschen, privat fürs Alter vorzusorgen. Ein gerechter Lohn sollte ermöglichen, die „Existenz zu sichern“ und Geld zurückzulegen für die Zukunft. Wenn Bezahlung aber unweigerlich zur Altersarmut führt, weil nichts gespart werden kann, dann erscheint dies heute als besonders ungerecht.
Auch die Entkoppelung von Leistung und Entgelt drückt auf die Stimmung. Die Reallöhne sind in den vergangenen drei Jahren gesunken, während die Gewinne munter stiegen. Im Schnitt verdienen Vorstände der Aktiengesellschaften jährlich 1,7 Millionen Euro. Dem durchschnittlichen Arbeitnehmer ist der Zusammenhang zwischen Lohn und Leistung hier nur noch schwer zu vermitteln.
Immer mehr Erwerbstätige ackern heute zudem als „kleine Selbstständige“. Deren Einkommen aber ist unmittelbar von schwankenden Märkten und der Konkurrenzlage abhängig. Einen quantitativ messbaren Zusammenhang zwischen Leistung und Entgelt, wie er etwa im Akkordlohn der tayloristischen Produktion noch zu finden ist, gibt es bei den Selbstständigen nicht. Wenn aber das Einkommen kaum noch steuerbar erscheint durch die eigene Anstrengung, dann kommt die Angst.
Das Gerechtigkeitsempfinden gerät auch ins Wanken, weil der Verschleißfaktor bei der Entlohnung kaum berücksichtigt wird. Dieser entscheidet aber in einer alternden Gesellschaft über die Lebensqualität. Wer im Krankenhaus für sechs Euro brutto Betten bezieht oder am Band in Zeitarbeit montiert, braucht Körper und Nerven stärker auf als jemand, der am Schreibtisch und in Meetings sitzt.
Es ist kein Zufall, dass immerhin noch zwei Drittel der Akademiker im Alter zwischen 60 und 65 Jahren erwerbstätig sind, aber nicht mal ein Viertel der Leute ohne Berufsabschluss. Wer eine niedrig qualifizierte Arbeit macht, kriegt wenig Geld und gibt die Gesundheit dran, das ist buchstäblich eine doppelte Kränkung.
Doch welche neuen kollektiven Lohnsicherungen kann es geben? Dass die guten alten Tarifverhandlungen vielleicht doch eine sinnvolle Sache und nicht wirtschaftsfeindlich sind, spricht sich wieder herum.
Darüber hinaus laufen die politischen Verhandlungen auf mehreren Ebenen: Teile der Union und die SPD haben sich bereit erklärt, die „Sittenwidrigkeit“ von Löhnen gesetzlich festzuschreiben. Löhne, die 20 bis 30 Prozent unter Tarif liegen, wären dann auch per Gesetz und nicht nur per Rechtsprechung als „sittenwidrig“ einzustufen. Dies ist aber nur eine nette Geste angesichts von Tariflöhnen zwischen vier und fünf Euro, die es im Osten noch gibt.
Die nächsthöhere Ebene der Lohnsicherung wäre die Ausweitung des Entsendegesetzes auf zehn Branchen, wie von SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering gefordert. Damit würden tariflich vereinbarte Mindeststundenlöhne, nach Branchen unterschiedlich, für alle Unternehmen obligatorisch. Sie gelten dann auch für nicht tarifgebundene Firmen und auch für ArbeitnehmerInnen aus dem EU-Ausland. Das ist sinnvoll, doch da es in einigen Branchen, gerade in der Dienstleistung, Tariflöhne von unter sechs Euro gibt, löst sich damit das Problem der Existenzsicherung nicht.
Ergänzt werden müssten Branchenregelungen also durch eine einheitliche Lohnuntergrenze, einen gesetzlichen Mindestlohn, wie es ihn in England, Frankreich und anderen Ländern längst gibt. Nur so verhindert man, dass der wachsende Niedriglohnsektor ein Bereich bleibt, in dem wie bisher vor allem Hinzuverdiener ackern. Die Tariflöhne für die Zeitarbeit könnten für einen solchen Mindestlohn eine realistische Anfangsmarke vorgeben. Dort gilt im Westen eine Untergrenze von etwas über sieben Euro brutto als Stundenlohn. Diese einheitliche Lohnuntergrenze, für den Osten leicht abgesenkt, könnte sukzessive erhöht werden. So ist es beispielsweise in Großbritannien auch geschehen.
Aber wie beeinflusst die Entgeltfrage die akademischen Milieus? Abgesehen von den Tariflöhnen werden die Lohnsicherungen künftig individueller laufen, mit Siegern und Verlierern. Junge, gut ausgebildete Angestellte dürften ihre Gehälter künftig zunehmend individuell aushandeln. Genau deswegen boomen auch Ratgeber, die Tipps geben für die persönliche Gehaltsverhandlung.
Als „gerecht“ dürften die Arbeitsentgelte daher auch künftig nicht empfunden werden. Zu sehr verschieben sich die Märkte. Lange Ausbildungen zahlen sich oft nicht mehr aus, zu schnell ändert sich der Jobmarkt. Aber die Suche nach dem „gerechten Lohn“ sensibilisiert wenigstens unsere Wahrnehmung. Noch vor kurzem forderten Sozialpolitiker mehr Lohnspreizung, also mehr Ungleichheit und mehr „Lohn nach Leistung“, das nütze der Wirtschaft und damit allen. Diese Debatte ist derzeit mausetot. Und das ist gut.
BARBARA DRIBBUSCH