Soldaten schreien still

Hebron ist eine der ältesten ununterbrochen bewohnten Städte der Welt, 30 Kilometer südlich von Jerusalem. Hier im Westjordanland leben heute etwa 130.000 Palästinenser, unter ihnen in der Altstadt inzwischen 750 israelische Siedler. Seit 1997 ist Hebron in die Zonen „H1“ und „H2“ geteilt. „H1“ ist der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt. „H2“ bezeichnet die Enklave in der Altstadt; hier leben die Siedler und etwa 2.500 Palästinenser. Auf dem Gebiet liegt auch das Grab Abrahams, das für Judentum wie Islam heilig ist. TAZ

AUS HEBRON MATTHIAS LOHRE

Gut und Böse trennt nur eine schmale, asphaltierte Straße. Auf der einen Seite der Shuhada-Straße haben sich radikale jüdische Siedler in einem Labyrinth aus sandsteinverkleideten Häusern und Anbauten verschanzt. Gegenüber leben Palästinenser hinter Mauern, von denen die Farbe blättert. Zwischen ihnen stehen israelische Soldaten, bewaffnet mit Maschinengewehren und Funkgeräten. Sie haben den Befehl, die verfeindeten Gruppen auseinander zu halten. Mehr wissen die jungen Frauen und Männer in Uniform selten, wenn sie nach Hebron kommen. Wenn ihre Armeezeit endet, glauben viele von ihnen nicht mehr an die Unterteilung in Gut und Böse. Doch während die meisten von ihnen darüber schweigen, haben einige begonnen zu reden – Exsoldaten wie Mikhael Manekin.

An diesem sonnigen Wintertag steht der 27-Jährige in Hebrons verwaister Altstadt. „Hier mussten Soldaten bis vor wenigen Wochen darüber wachen, dass die Palästinenser die Straße gegenüber dem Siedleranwesen nicht betreten. Nicht einmal die Anwohner.“ Mit seinem Dreitagebart, weiten Jeans und amerikanischem Akzent wirkt Manekin eher wie ein verträumter US-Collegestudent, nicht wie ein Reservist der israelischen Armee. „18-Jährige in Uniform zwangen Alte und Kinder, eine schmale Treppe zu ersteigen und an einem Steilhang entlangzugehen. Hauptsache, Palästinenser und Siedler gingen einander nicht an die Gurgel.“ Mit schnellen Worten erklärt er, was er erlebt hat während seiner Armeezeit in der zweitgrößten Stadt des Westjordanlands. „Die hiesigen Siedler gehören zu den gewalttätigsten überhaupt“, sagt Manekin. Er versucht, ruhig zu klingen.

Die Siedler stehen im Zentrum einer Geschichte von Gewalt und Gegengewalt, wie sie so oft in diesem unruhigen Land zu hören ist. Aber in Hebron ist sie noch bizarrer. Wie in einer Schneekugel liegen hier die Konflikte, die Israel zermürben, offen zutage. Deshalb erzählt der Exsoldat, was er und andere junge Soldaten hier erlebt haben und was neuerdings sogar Israels Regierung aufschreckt. Das jüngste Kapitel dieser langen Geschichte des Hasses, das Kapitel der radikalen Siedler, begann 1967.

Seit dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg strömten immer mehr strenggläubige Juden in die Stadt, in der Abraham begraben sein soll. Und besetzten seither Schritt für Schritt „Heiliges Land“. Die Siedler nutzen ihren Einfluss in Militär und Regierung, um sich immer weiter in Hebrons Altstadt festzusetzen. Manekin fasst die Taktik der Siedler so zusammen: „Ein Siedlungsbewohner lädt Verwandte ein, die Armee lässt sie als vorübergehende Besucher passieren, und sie bleiben als neue Siedler.“ Die Folgen sind bizarr. Schätzungsweise 400 haben sich in der Altstadt festgesetzt – beschützt von rund 1.000 Soldaten und umringt von Palästinensern. Über 130.000 Einwohner zählt die Stadt insgesamt.

In manchen Häusern wohnen Siedler und Palästinenser übereinander – und doch strikt voneinander getrennt. Über den engen Altstadtgassen haben die arabischen Bewohner Drähte gespannt, die ein wirres Netz bilden. Darauf liegen verfaulendes Fleisch, Steine und leere Flaschen. Siedler aus den umliegenden Häusern bewerfen damit ihre palästinensischen Nachbarn, um sie zu zermürben. Auf Dachgiebeln halten Soldaten Wache. Sicherheit ist alles hier, wirklicher Frieden weit entfernt. „Militär und Polizei drängen immer nur die Palästinenser zurück, nie die Siedler“, sagt Manekin mit Blick auf den kleinen Checkpoint, der aussieht wie eine mobile Toilette. Neben dem Häuschen versperren Steinbarrieren die Zugänge zur Altstadt.

„Das mildeste Wort für unsere Arbeit hier“, sagt Manekin, „lautet ‚Politik der Trennung‘.“ Er lacht kurz auf. Der junge Mann möchte sarkastisch wirken, aber es gelingt ihm nicht. Zu nahe geht ihm das, was hier geschieht. Manekin hasst das Militär nicht, der Sohn einer linksliberalen säkularen Familie verpflichtete sich sogar für länger als die obligatorischen drei Jahre bei der Armee. Aber seine Erfahrungen haben ihm gezeigt, dass die Unterteilung in jüdische Israelis und Palästinenser, in Gut und Böse grundfalsch ist. Im Januar musste auch das Militär selbst eingestehen, dass die „Politik der Trennung“ rechtswidrig ist. Seither dürfen die palästinensischen Anwohner zum ersten Mal seit Jahren wieder ohne Genehmigung die Straße vor ihrer Tür betreten. Ein Erfolg für Mikhael Manekin und „Breaking the Silence“.

Manekin führt die kleine Nichtregierungsorganisation ehemaliger Soldaten von seiner Tel Aviver Wohnung aus, gemeinsam mit zwei angestellten und wenigen freien Mitarbeitern. Seit 2004 haben sie hunderte Aussagen israelischer Exsoldaten gesammelt, die im Westjordanland und im Gaza-Streifen Dienst getan haben. Wie Manekin sind viele von ihnen bis heute Reservisten. Fast immer veröffentlicht Breaking the Silence ihre Worte anonym. Die Armee ist der Schmelztiegel der heterogenen israelischen Gesellschaft, über ihre Fehler und Verbrechen zu reden gilt vielen als Landesverrat. Doch seit dem desaströs verlaufenen Libanonkrieg schwindet die Furcht, über den alltäglichen Irrsinn der Besatzung zu sprechen. Gegenüber Breaking the Silence zog ein Soldat nach seinem halben Jahr in Hebron den Schluss: „Dort müssen wir die Palästinenser vor den Juden schützen, nicht umgekehrt.“

Ein anderer ehemaliger Soldat erzählte, wie seine Einheit die gefürchteten Siedler bevorzugt: „Weil es keine eindeutigen Gesetze gibt, können sie tun, was sie wollen.“ Der Brigadekommandeur gebe seinen Untergegebenen stets das Gefühl: „Ich habe eine Million Dinge zu tun, da schlage ich mich nicht obendrein mit den Siedlern herum. Sollen sie doch noch ein Geschäft in Brand stecken, noch ein Nachbarhaus mit Müll vollstopfen, noch eine Wohnung besetzen. Alles keine große Sache.“ Wenn solche Taten publik werden, fallen die Strafen meist gering aus. Für die Siedler gilt das israelische Zivilrecht, für die Palästinenser das weit striktere Militärrecht.

Doch langsam scheint die Stimmung zu kippen. Nahe dem Grab des Patriarchen besetzten vor eineinhalb Wochen Dutzende jüdische Siedler ein dreistöckiges Haus. Sie behaupteten, den Rohbau gekauft zu haben. Eine palästinensische Familie erklärte dasselbe. Vizeregierungschef Schimon Peres sprach wütend von einer „unerträglichen Situation. Sollten die Siedler illegal gehandelt haben, kündigte er an, werde das Haus geräumt werden. Bereits Mitte Januar hatte Ministerpräsident Ehud Olmert eine Untersuchung der Vorwürfe am Schauplatz Hebron angekündigt, dreizehn Jahre nach dem Tag, der hier alles veränderte.

Heute erinnert am Grab Abrahams nur noch eine Sicherheitsschleuse an das Massaker vom Februar 1994. Damals stürmte der Siedler Baruch Goldstein mit einem Maschinengewehr in die „Grotte des Patriarchen“, des mythischen israelitischen Stammvaters. Er erschoss 29 islamische Gläubige, die auf dem schlichten Teppichboden beteten. Mehr als hundert wurden verletzt. Als Goldstein seine Munition verbraucht hatte, erschlugen ihn Überlebende mit einem Feuerlöscher. Das Massaker an einem der heiligsten Orte von Judentum, Christentum und Islam machte aus Hebron einen der gefährlichsten Orte im Westjordanland. „Radikale Siedler gab es schon länger hier“, sagt Manekin, „aber seither ist alles anders.“

„Die Siedler gehören zu den gewalttätigsten überhaupt“, sagt Mikhael Manekin „Das mildeste Wort für unsere Arbeit hier lautet ‚Politik der Trennung‘“

Siedlergruppen schlossen sich im Altstadtzentrum zusammen. Gegen die überwältigende palästinensische Mehrheit wollten sie ein wachsendes Bollwerk sein. Ihr Sprecher ist ein Mann, dem seine rigiden Ansichten nicht auf den ersten Blick anzusehen sind.

Mit grauem Vollbart und dunkler Wollweste vermittelt David Wilder eher das Bild eines friedfertigen Großvaters. Das ändert sich schnell, wenn er mit seinem Besuch in den Keller der Wohnanlage steigt. Unter geschwungenen Decken hängen in einem kleinen Museum alte Fotos. Großaufnahmen zerhackter Hände und eingeschlagener Schädel. Zeugnisse eines Pogroms im Jahr 1929, in dem Palästinenser 67 Juden töteten und 70 verletzten. Damals erlosch nach fast vier Jahrhunderten die jüdische Gemeinde Hebrons. „Die britische Mandatsmacht tat damals nichts für uns“, sagt Wilder.

Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen den Juden damals und jenen heute. Ebenso wenig wie zwischen den palästinensischen Totschlägern vor siebzig Jahren und seinen muslimischen Nachbarn. Wilder sieht sich an der Spitze einer Mission, der er niemals untreu werden darf. Israels Regierung habe schon zu oft nachgegeben. „Wir haben 10.000 Siedler aus ihren Häusern in Gaza geworfen, und wie danken es uns die Palästinenser? Sie schießen mit Kassam-Raketen auf uns.“ Seit 2001 sehen sich die Siedler in Hebron als Akteure in einem noch gewaltigeren Konflikt: „Die Araber haben das World Trade Center in die Luft gejagt und später die Züge in Madrid.“ Der Kampf zwischen Gut und Böse wird für Wilder auch an der schmalen asphaltierten Straße ausgefochten.

Wo bis Mitte der 90erHebrons Marktplatz war, türmen sich heute Ruinen ehemaliger Lagerhäuser. „Siedler haben sie mit Bulldozern zerstört, damit die Händler nicht zurückkehren“, sagt Manekin. „Das Militär hat es zugelassen.“ Die Behausungen der Siedler reichen mittlerweile bis an die Überreste der Marktstände heran. Zwei Militärpolizisten beobachten von ihrem Streifenwagen aus die Szene. „Um weiteren Streit zwischen Siedlern und Palästinensern zu vermeiden, soll das Militär beide Seiten von der Einöde fernhalten“, sagt Manekin. In diesem Moment gehen drei junge Männer mit langen Schläfenlocken an den Polizeiauto vorbei, quer über den leeren Marktplatz.