piwik no script img

Archiv-Artikel

Das überaus reale Durcheinander

Eine unerwartete Form von Gegenöffentlichkeit: Leben zu erzählen ist die Stärke des neuen deutschen Dokumentartheaters. Fast wie Journalisten arbeiten heute die Regisseure – nur dass sie dabei nicht über, sondern mit ihren Protagonisten reden

Die Regisseure agieren, als hätten sie ihr Handwerk an der Henri-Nannen-Journalistenschule gelernt Die Nabe des Stücks ist die Begegnung mit den wirklich Betroffenen des Skandals

VON AURELIANA SORRENTO

Womöglich hatten es die Kritiker, die die Auswahl trafen, nicht erwartet: Als Andres Veiels „Der Kick“ vergangenes Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, schlug das Stück wie ein Sprengkörper auf die geglättete Oberfläche der von piekfeinen, aber friktionslosen Inszenierungen geprägten Theaterenklave. Denn das, was da zwei grandios wendige Schauspieler dem Publikum präsentierten, waren keine effektsicheren Sätze eines good made play, sondern Aussagen von Einwohnern des uckermärkischen Dorfs Potzlow, in dem Jugendliche einen Gleichaltrigen auf monströse Art und quasi vor den Augen der Nachbarn ermordet und verscharrt hatten.

Monatelang hatten Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt im Ort recherchiert und Zeugnisse über den Mord, das Opfer und seine Schächer gesammelt. Das Destillat dieser Materialsammlung versetzte den Zuschauer so unmittelbar in die Umwelt – und die Psyche – der Täter, dass man die Bluttat, wenn auch nicht entschuldigen, unweigerlich nachvollziehen musste. Ein erschreckendes, eindringliches Erlebnis. Und freilich etwas völlig anderes als das, was die Medien über den Fall Potzlow berichtet hatten. Nach der öffentlichen Ächtung der gesamten Dorfgemeinschaft hatte Veiel, wie er erzählte, seine Mühe gehabt, das Vertrauen der Bewohner Potzlows zu gewinnen und sie zum Sprechen zu bringen. Dass er dazu den langen Atem hatte, wundert nicht: Von Hause aus ist Andres Veiel Dokumentarfilmer, der auf Langzeitbeobachtungen setzt.

Er ist aber nicht der Einzige, der sich derzeit der dokumentarischen Methode befleißigt, um reale Stoffe und reale Menschen auf die Bühne zu bringen. Wenn auch die meisten Schauspielhäuser in erster Linie längst geschriebene Dramen auf dem Spielplan haben, so scheinen doch die Ränder des Theaterbetriebs seit geraumer Zeit in eine Art Wirklichkeitsfieber geraten zu sein. Die Künstler, die sich in diesem Raum des Hungers auf den echten Menschen bewegen, sind meist einer Bildungsstätte der Bühnenkunst entwachsen, gerieren sich aber so, als hätten sie ihr Handwerk an der Henri-Nannen-Journalistenschule gelernt. Sie schneiden sich die scheinbar nebensächlichsten Nachrichtenmeldungen aus den Tagesblättern heraus, sammeln Berge an Dokumentationsmaterial und stürzen sich in ausgedehnte und langwierige Recherchen, bei denen sie Zeugen suchen und ausführlich interviewen, Aussagen vergleichen und auf Wahrhaftigkeit abklopfen, montieren, sprachlich justieren, feilen und schmirgeln. Um schließlich ein neues Stück samt seinen Urhebern in Szene zu setzen.

Wie berührend das Resultat sein kann, ist bei Cargo Sofia-Berlin von Stefan Kaegi (einer der Regisseure vom Trio, das unter Rimini Protokoll firmiert) am schönsten zu besichtigen. Auf der Fensterscheibe des Lkws, in dem die Zuschauer durch Berlin (oder eine andere Großstadt) kutschiert werden, blinken Nachrichtensätze über den Willi-Betz-Skandal, über den 2003 der Spiegel berichtete. Die Reutlinger Spedition Willi Betz habe 1994 die bulgarische Speditionsfirma Somat mit 4.000 Fahrern gekauft, meldete damals das Nachrichtenmagazin. Und verwies auf die Millionen, die dem deutschen Steuerzahler dadurch verloren gingen, dass Betz und andere Unternehmen Fahrer aus Osteuropa unterbezahlt und de facto illegal beschäftigten.

Bei „Cargo Sofia-Berlin“ sind die blanken Nachrichten aber nur Nebensache: Sie rasen über die Scheibe so schnell, dass man sie kaum lesen kann, wenn sie nicht gleich von den Lichtern der Stadt überblendet werden. Die Nabe des Stücks ist die Begegnung mit den wirklich Betroffenen des Skandals. Zwei der bulgarischen Fahrer, die von Firmen wie Betz lange ausgebeutet wurden, führen den Theatergänger in ihre klaustrophobisch enge Lkw-Welt – und durch die Räume, die sie von Berufs wegen kennen, die jedoch ein Theatergänger normalerweise nie im Leben betritt: Großmärkte, Lagerhallen, Abstellplätze, Auffahrtrampen. Man erfährt, wie hässlich die Orte sind, an denen die Waren produziert werden, die wir alltäglich verbrauchen. Man spürt, wie der Mensch, der an solchen Orten arbeitet, selber zur Ware wird.

Dabei verkneift sich Kaegi jeden Pathos und lässt bulgarische Tanzmusik von einer Musikerin mitten in den Industriebrachen erklingen. Die Intensität seiner Theateraktion beruht nicht zuletzt darauf, dass in ihr die Alltagswirklichkeit der osteuropäischen Fahrer und deren trockener medialer Widerschein aufeinander treffen. Somit weist sie auf eine Lücke im (Medien-)System hin.

In eine Lücke stießen in den 60er-Jahren auch die Dramen von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphart und Peter Weiss vor. Ihr Dokumentartheater griff Themen auf, die gesellschaftlich virulent waren, mit denen die Nachkriegsgesellschaft aber nichts zu tun haben wollte: Tabuthemen, denen eine öffentliche Plattform fehlte. Solche Schamzonen in der Gegenwart nachzuspüren, käme einer Schatzsuche gleich – wer sie fände, würde damit vermutlich einen kräftigen Reibach machen. Denn nichts lässt sich in der jetzigen Medienlandschaft leichter vermarkten als das Übertreten wahrer oder vermeintlicher Tabus.

Aber andererseits wird die Auswahl der Themen, die durch die auflagenstarken Medien Zugang zur breiten Öffentlichkeit finden, fast ausschließlich nach den Geboten der Medienwirkungsforschung getroffen, wie auch die Aufarbeitung der Beiträge diese beachten muss. Es muss also zum einen jeder noch so komplexe Zusammenhang, jedes noch so widersprüchliche Phänomen auf eine möglichst simple These reduziert werden, soll es in Presse oder Rundfunk irgendeine Form von Darstellung finden. Zum anderen gelten selbst gesellschaftliche Entwicklungen, die lange vor aller Augen von statten gingen, erst dann als darstellungswürdig, wenn ein Ereignis eintritt, das ihnen eine gewisse Prominenz oder Dringlichkeit verleiht. Wer würde heute, wie manch illustrer Vorkriegsreporter es tat, durch die Armen- und Arbeiterviertel einer Großstadt herumstreunen, um daraufhin – ohne Anlass – zu schildern, wie der kleine Mann von nebenan lebt? Dafür muss schon aus hoher Warte eine Unterschichten-Debatte vom Zaun gebrochen werden. Bis dahin ist das Thema „irrelevant“.

Angesichts dieser modernen, systeminhärenten Selbstzensur, so hat es zumindest den Anschein, erfüllt das gegenwärtige Dokumentartheater die Funktion einer Gegeninformations-Bühne. Das galt zwar auch für die Stücke der Dokumentar-Theater-Heroen der 60er-Jahre – mit denen ihre heutigen Nachfolger aber nichts am Hut haben wollen. Völlig zu Recht: Hatte damals Peter Weiss das dokumentarische Theater als eine Form definiert, die ein Modell der aktuellen Vorgänge liefert, indem sie deutliche Einzelheiten aus dem chaotischen Material der äußeren Realität hervorhebt – und damit, äußerst parteilich, eine Art Tribunal der Geschichte veranstaltet –, bieten die Doku-Künstler unserer Tage vor allem Abbildungen des überaus realen und auf kein Modell reduzierbaren Chaos dar.

Sie holen echte Menschen auf die Bühne, mit dem Häckselklein ihrer Durchschnitts-Lebensläufen; mit Erfahrungen, die sich ähneln oder widersprechen und nicht darauf angeschaut werden, in allgemeingültige Muster zu passen. Warum das kein Tribunal-Theater mehr ist, beantwortet Daniel Wetzel von Rimini Protokoll mit der Gegenfrage: „Wie soll man Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, an den Pranger stellen?“

Ohnehin ist das nicht die Absicht. Auch gegenüber der Geschichte, jener mit dem großen G, lässt sich auf der Realitätsbühne des Regie-Trios Rimini Protokoll keine Stellung nehmen. Wer dachte, bei einem Stück mit dem Titel „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ käme man doch nicht drum herum, hat sich geirrt. Die „Wirklichkeitsexperten“, die Helgard Haug und Daniel Wetzel auf die Bühne geladen haben, damit sie erklären, was in dem geschichtsträchtigen Werk wirklich zu lesen ist, haben zwar einiges zu sagen über die Entstehung des „Kapitals“, über „relativen Warenwert“ und die Erfahrung, „selber Ware zu sein“. Ihre Vorträge, Bekenntnisse und Erlebnisberichte ergeben jedoch kein einheitliches Geschichtsbild noch einen gesicherten Standpunkt. Nur greifbare, dinghafte und hundertprozentig subjektive Lebenserzählungssplitter, von einem revuehaften Rahmen zusammengehalten. Hochgradig amüsiert und hochgradig desorientiert geht dann der Zuschauer nach Hause.

Ist das eine Absage an den Anspruch, die Realität auszulegen, zu kategorisieren, sie fest- und umzuschreiben? In der Tat wirken die meisten Doku-Theater-Stücke, die momentan auf deutschen Bühnen zu sehen sind, als wollten sie gegen die Anmaßung der Deutung (und Missdeutung) protestieren – ohne Rebellen-Gestus. Die neue Generation von Alltagsbiografien auf der Bühne gibt sich ziemlich gelassen.

„Alles auf Anfang. Die Generation ’89“ heißt die jüngste Produktion des Genres. In den Städten Magdeburg und Hannover haben Regisseur Andreas Kebelmann und sein Team zwanzig Menschen interviewt, die 1989 zwischen 15 und 25 Jahre alt waren: die Generation ’89, für welche die historische Wende mit einer biografischen Entwicklungsmarke zusammenfiel.

In thematischen Blöcken gegliedert, aneinander geschnitten und auf eine über Eck geteilte Wand projiziert, bilden die Interviews das Kernstück des Theaterabends: Statements über das Leben vor und nach dem 9. November, über Vorurteile und Vorstellungen des jeweils anderen Deutsch-Lands, aber auch über Werte, Wünsche, Zukunftsträume. Aussagen, die sich überschneiden, manchmal doppeln, bisweilen konterkarieren – ohne dass die Schnittfolge sie einem dramatischen Bogen unterordnen würde. Frappierend ist der beinah vollständige Verzicht auf die gewohnten Mittel der Theaterkunst. Befremdend bleibt die Gleichwertigkeit der Meinungen, der einzelnen Auskünfte und Lebensberichtsfragmente; unkommentiert stehen sie nebeneinander. Als wären sie einzigartig und austauschbar zugleich.

Die sechs Interviewpartner, die (am 12. und 14. April wieder in Hannover) live auftreten, um vor Mikrofonen die Erzählung fortzusetzen, vermengen Bruchstücke der eigenen Geschichte mit Episoden aus den Biografien der anderen. Vielleicht wurde da einiges erfunden, na und? Erdichtet nicht jeder Mensch seine eigene Lebenslegende? Seine ganz eigene, einmalige?

Immer wieder wird versucht, in rückblickenden, von dem einen oder anderen Mitwirkenden vorgelesenen Texten Resümee zu ziehen. Aber ein Gesamtbild der Generation ’89 war bei der Uraufführung Ende März im Schauspiel Magdeburg nicht in Sicht. Nur darüber, dass das Leben härter geworden ist, herrscht unter den meisten Befragten Einigkeit. Ansonsten sind die Menschen offenkundig zu unterschiedlich, die möglichen Lebenskoordinaten einfach zu vielfältig, als dass man mehrere Gleichaltrige ohne weiteres auf einen Begriff wie „Generation“ zurückführen könnte. Generation? Auch das eine Konstruktion um der besseren Verwertbarkeit willen. Und abermals gerät auch auf Kebelmanns Bühne die Geschichte – jene mit dem großen G, wie sie Medien und Sachbücher tradieren – zur Fiktion. Zwischen den Interviews taucht sie als Verschnitt von Nachrichtenbildern, Massenszenen vom 9. November 1989, Straßenaufnahmen vom 3. Oktober 1990, im Hintergrund auf. Ohne Ton. Gewiss nicht aus Zufall.