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Archiv-Artikel

Bald ist Schluss mit lustig

taz-Serie „Das letzte Jahr“ (Teil 6): In 15 Wochen beginnt die Zukunft für die Schüler der Klasse 10/3 der Werner-Stephan-Hauptschule. Der Kampf um einen Ausbildungsplatz macht den meisten Angst

VON ALKE WIERTH

Stephan ist gut drauf. Der schlaksige Junge tänzelt durch die Küche und versucht, seine MitschülerInnen mit Sprüchen zum Lachen zu bringen. Die kochen gerade, wie jeden Freitag, das Mittagessen für die Schülerfirma der Werner-Stephan-Oberschule. Viel Erfolg hat Stephan nicht: Die Stimmung in der hellen Küche unterm Dach der Schule, von wo aus man einen weiten Blick über Tempelhof hat, ist heute nicht so locker wie sonst. Mehr als Stephans Späße nervt freilich Arbeitskundelehrer Gundacker, der sonst so beliebte „Küchenchef“. Bohrende Fragen stellt er heute: Es geht ums Absenden von Bewerbungen, Termine für Vorstellungsgespräche oder Beratungen beim Arbeitsamt. Wie ein Heringsschwarm vor dem Raubfisch versuchen die SchülerInnen, dem Lehrer auszuweichen.

Sie haben Angst, und das nicht ohne Grund. Es geht um ihre Zukunft. Die beginnt in 15 Wochen, genauer: am 10. Juli. Dann endet das Schuljahr, und für die Klasse 10/3 heißt das: Ihre Zeit an dieser Hauptschule ist vorbei.

Klar, das Leben geht weiter – aber wie genau, weiß bislang nur einer: Stephan. Der Glückspilz hat eine Lehrstelle. In einem Elektrobetrieb, von dessen drei Chefs einer sein Vater ist. Bewerben musste er sich trotzdem, und mit zu schlechten Noten hätte er den Ausbildungsplatz nicht bekommen. Die waren im letzten Zeugnis zum Glück besser. Stephan freut sich, auch weil der Beruf ihm Spaß macht, wie er sagt. „Außerdem sehe ich meinen Vater dann öfter.“

Eine Bewerbung, ein Treffer: Falls die anderen neidisch sein sollten, merkt man es ihnen nicht an. Die meisten haben zwischen 10 und 25 Bewerbungsschreiben verschickt. Noch sind nicht alle beantwortet. Doch die ersten Absagen tropfen ebenso herein wie – seltener – Einladungen zu Bewerbungsgesprächen. Robert, der Computerfreak, darf sich für einen Ausbildungsplatz zum IT-Systemelektroniker in der Verwaltung der FU vorstellen. Er ist ziemlich cool. In Sachen Computer kann ihm in der Klasse keiner was vormachen, und bei Probegesprächen, die ihm über das Netzwerk Hauptschulen vermittelt wurden, hat er bereits Erfahrungen mit Prüfungssituationen gesammelt.

Außer Robert sind noch fünf weitere SchülerInnen der 10/3 in diesem Fördernetzwerk. Knapp 50 größere Berliner Unternehmen haben sich mit Arbeitsagentur, IHK und Handwerkerinnungen zusammengeschlossen, um begabte HauptschülerInnen zu fördern. Geboten werden neben Bewerbungstraining auch Förderunterricht und Praktika. Im vergangenen Jahr konnte das Netzwerk 113 von 271 betreuten SchülerInnen in betriebliche Ausbildungsplätze vermitteln. 68 weitere kamen in anderen Maßnahmen unter. In diesem Schuljahr werden berlinweit 400 HauptschülerInnen gefördert.

„Lügst du manchmal?“

Auch Dennis gehört zu denen, die das Netzwerk fördert. Koch will er werden, ein erstes Bewerbungsgespräch hat er schon hinter sich. Seine Erfahrungen aus dem Training haben ihm dabei aber wenig geholfen. Statt nach seinen Plänen und Fähigkeiten, berichtet Dennis, habe man gefragt, was er gern im Fernsehen anschaue: „Und ob ich manchmal lüge, wollten sie wissen!“

Dem schüchternen Jungen ist noch anzumerken, wie sehr ihn das verunsichert hat. Dennis ist einer der Jüngsten und gehört zu denen, die sich dank der intensiven Förderung an der Schule gut entwickelt haben. Sein Halbjahreszeugnis gehörte zu den besten. Bei der Küchenarbeit ist er in seinem Element. Doch ihn mit unerwarteten Fragen zu löchern ist der sicherste Weg, den ohnehin stillen Jungen komplett zum Verstummen zu bringen. Dass er nach diesem ersten Versuch eine Absage erhielt, macht die Sache nicht leichter – auch wenn Eloquenz nicht die wichtigste Eigenschaft eines guten Kochs ist. Die Konkurrenz ist groß.

Längst haben Hauptschüler auch kaum noch Chancen in den Berufen, für die der Hauptschulabschluss früher als ausreichend galt. Nicht zuletzt deshalb müssen alle SchülerInnen der 10/3 den berüchtigten „Anmelde- und Leitbogen“ der Schulverwaltung ausfüllen. Der ermöglicht ihren Übergang in schulische Qualifikationsmaßnahmen, die in verschiedenen Berufsfeldern von den OSZ, den Oberstufenzentren, angeboten werden.

Im Deutschunterricht befasst sich die Klasse 10/3 mit den grauen Formularen. Zuerst gilt es, das gewünschte Berufsfeld und das entsprechende OSZ zu finden. 36 Zentren gibt es, von Agrar- bis Wohnungswirtschaft reicht das Angebot. Verteilt sind sie über die ganze Stadt, manchen wird angst und bange angesichts der unbekannten Adressen. „Am besten wäre, wir könnten alle zusammenbleiben“, seufzt Alexander. Er füllt den Bogen zusammen mit Dennis aus, denn auch er will Koch werden. Die Wahl zwischen den 15 Berufsfeldern fällt deshalb leicht: Sie kreuzen „Ernährung und Hauswirtschaft“ an. Dann wird es schon undurchsichtiger: Die Bildungsgänge, die der „Anmelde- und Leitbogen“ Dennis und Alexander zur Auswahl stellt, heißen „OBF“, „BQL“ oder „MDQM I“.

OBF? BQL? MDQM I?

Die Zehntklässler der Werner-Stephan-Schule werden in ihren letzten Monaten an der Schule gut betreut: Klassenlehrerin Ruth Jordan, Arbeitskundelehrer Norbert Gundacker und zwei Bewerbungsberater kümmern sich um jeden. Doch die vielfältige und wandelbare Landschaft der berufsvorbereitenden Maßnahmen, die Berlin HauptschülerInnen anbietet, ist selbst für Lehrer schwer zu durchschauen. Sie verlassen sich auf die Empfehlungen der schulischen und amtlichen Berufsberater. „Sie kennen die Schüler sehr genau und wissen meist am besten, was für den Einzelnen das Richtige ist“, meint Klassenlehrerin Jordan. Sie konzentriert sich darauf, ihre SchülerInnen zu motivieren. Nicht alle stellen sich den Herausforderungen am Ende der Schulzeit mit dem gleichen Elan wie Robert, Dennis oder Alexander.

Arafat zum Beispiel. Er würde gern Arzthelfer werden. Beworben hat er sich nicht. Er glaubt einfach nicht daran, dass er eine Lehrstelle finden würde: „Ich kenne keinen arabischen Jugendlichen, der einen Ausbildungsplatz bekommen hat.“

Aber schüchtern ist Arafat auch nicht. Er sitzt als Erster im Büro von Ruth Jordan. Sie sorgt dafür, dass ihre SchülerInnen von der Schule aus bei den Oberstufenzentren anrufen, bei denen sie sich bewerben möchten. Im Deutschunterricht wurde der Anruf geübt. Souverän erkundigt sich Arafat nach Aufnahmebedingungen und Anmeldemodalitäten. Auch als er hört, dass er sich als Kreuzberger nicht in Reinickendorf, sondern beim Hellersdorfer Oberstufenzentrum für Gesundheit anmelden muss, sinkt sein Mut kaum. Er sucht gleich die beste S-Bahn-Verbindung heraus. Und macht sich mit einer Klassenkameradin sofort nach dem Telefonat auf den Weg.

Discos, Autos, Freunde: typische Teenagerthemen bestimmen das Gespräch der beiden auf dem Weg. Nur am Rande wird der Grund der Fahrt zum Thema. Wie mag die neue Schule sein? Wie die Klassenkameraden? Hellersdorf – davon haben die beiden bisher nur gehört. In den Plattenbauvororten im Osten fühlen sie sich wie in einer fremden Stadt.

Die Hellersdorfer Schule ist neu, hell, geräumig. Im Sekretariat geben die beiden Schüler ihre Anmeldungen ab. Einen Rundgang durch die Einrichtung zu machen, an der sie vielleicht das nächste Schuljahr verbringen werden – so viel Mut bringt selbst Arafat nicht auf. Die beiden wollen lieber nach Hause. Auf dem Rückweg sind sie eher still. Erst als die alte, vertraute Schule sichtbar wird, entfährt Arafat ein Seufzer: „Ach, Tempelhof ist so schön!“