: „Das ist Politik auf Stammtischniveau“
Das Raketenabwehrsystem in Tschechien und Polen dient Bush zu rein innenpolitischen Zielen, sagt Alexander Goltz. Für Russland ist es keine Bedrohung. Aber mit seinem Muskelspiel will Putin Washington zu Verhandlungen bewegen
ALEXANDER GOLTZ, geb. 1955 in Moskau, ist unabhängiger Militärexperte und Publizist. Er hat an der Moskauer Staatlichen Universität studiert und war von 1980 bis 1996 als Mitarbeiter bei der Armeezeitung des Verteidigungsministeriums, Krasnaja Swesda, beschäftigt. Seit 2001 ist er stellvertretender Chefredakteur der russischen Wochenzeitschrift New Times sowie der Internetausgabe jeschenedewnij journal. Im Jahr 2004 erschien in Russland sein Buch „Russlands Armee. Elf verlorene Jahre“.
taz: Herr Goltz, auf die aktuellen Pläne der US-Regierung, in Polen und Tschechien ein System zur Abwehr von Nuklearraketen zu stationieren, reagiert die russische Führung äußerst ungehalten. Fühlt Moskau sich denn dadurch akut bedroht?
Alexander Goltz: Washington verfolgt mit seinem Raketenabwehrsystem weniger militärische als politische Ziele. Zurzeit stellt das Raketenabwehrsystem überhaupt keine militärische Bedrohung dar. Und fraglich ist, ob es jemals in der Lage sein wird, auch nur eine einzige Rakete abzufangen. In zwanzig Jahren mag die Entwicklung weiter gediehen sein. Aber bislang ist die Technik einfach noch nicht ausgereift.
Hinter den Kulissen ist Moskau daher gelassen und hält die eigenen Nuklearkräfte weder für bedroht noch entwertet. Was sind schon zehn US-Missiles gegen tausende von russischen Sprengköpfen?
Wenn es so ist, dass die Technik noch gar nicht ausgereift ist, wie erklärt sich dann die auffällige Eile der USA, dieses Raketenabwehrsystem möglichst schnell in einigen osteuropäischen Ländern zu stationieren?
Seit 30 Jahren befasse ich mich nun schon mit der nuklearen Aufrüstung. In dieser langen Zeit ist es das erste Mal, dass die USA ein System dislozieren wollen, ohne es vorher genauestens auf seine Effektivität geprüft zu haben. Das führt mich zu dem Schluss, dass es vor allem innenpolitische Gründe sind, welche die Bush-Regierung leiten: Sie forciert das Thema vor dem anstehenden Wahlzyklus, weil ihr die Felle wegschwimmen.
Strategische Verteidigung ist in den USA bis heute ein zugkräftiges Thema. Große Teile der Bevölkerung hängen immer noch dem seligen Zustand nach, sich als eine unangreifbare Insel betrachten zu können. Außerdem beweist die Bereitschaft Polens und Tschechiens, dass sich die USA auch in der EU auf Partner verlassen können, die unhinterfragt ihren Vorgaben folgen.
Eignet sich das geplante Raketenabwehrsystem denn nicht auch für Spionagezwecke?
Theoretisch wäre das möglich – aber die Überwachungsanlagen im Stillen Ozean leisten dasselbe und mehr. Und: Unsere Raketen stehen in der Nähe von Iwanowo und Saratow. Im Falle eines russischen Angriffs auf die USA flögen die Raketen nicht über Europa. Die Abfangkörper aus Polen müssten den russischen Raketen also hinterherjagen, was keinen Sinn macht.
Woher kommt dann die Aufregung in Russland? Dort vergeht kaum ein Tag, an dem nicht vor einem neuen Kalten Krieg und der Gefahr eines Rüstungswettlaufs gewarnt wird.
Russland und die USA bewegen sich im Moment auf dem Niveau von Stammtischpolitikern. Für einen Kalten Krieg fehlen die ideologischen Grundlagen, für ein Wettrüsten die Mittel. Der russischen Führung geht es darum, die Anerkennung als Weltmacht zurückzuerlangen, die den USA wenigstens auf nuklearem Gebiet Paroli bietet.
Als sich die USA aus dem ABM-Vertrag 2002 zurückzogen, hat Moskau sehr empfindlich reagiert. Nicht, weil Russland einen US-Angriff fürchtete. Aber der Vertrag sicherte uns den Status zu, eine gleichwertige Macht zu sein.
Diese Parität spielt im Denken unserer Politiker eine entscheidende Rolle. Mit den Drohungen, die Militärs hätten eine Wunderwaffe entwickelt, die die Raketenabwehr der USA umgehen könnte, soll Washington wieder zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Das erklärt auch die Drohung, den Vertrag für Mittel- und Kurzstreckenwaffen aufzukündigen.
Ist das nicht ein Paradox? Einerseits warnt Russland vor der Gefahr eines Wettrüstens. Gleichzeitig erwägt man, ausgerechnet jenen Vertrag aufzukündigen, der einen Rüstungswettlauf verhindert?
Es ist Dummheit. Aber es zeigt, dass das russische Militär sich nicht im Ernst vor einem militärischen Angriff aus dem Westen fürchtet. Die verbalen Sperrfeuer sollen die USA lediglich vom ihrem hohen Ross herunter- und wieder zurück an den runden Tisch holen.
Was verbirgt sich hinter dem Gerede von einer angeblichen Wunderwaffe?
Nichts, glaube ich. Die meisten Politiker kennen sich in rüstungstechnischen Details nicht recht aus. Von einer Rakete mit erhöhter Manövrierfähigkeit ist die Rede, die auf neuen physikalischen Erkenntnissen beruht. Die Grundlagen dafür wurden in den Siebzigerjahren erarbeitet. Dem Konzept des Starwar-Programms unter US-Präsident Reagan in den Achtzigerjahren hätte diese Rakete wohl noch etwas entgegensetzen können. Das jetzige US-Programm setzt unterdessen auf einen kinetischen Schlag im Weltraum, wo auch eine solche Wunderwaffe nichts mehr ausrichten kann.
Die Europäer sind beunruhigt über die Spannungen zwischen Russland und den USA, in Deutschland schlägt die Debatte um das Raketenabwehrsystem auch innenpolitisch hohe Wellen.
Ich halte das für eine Reaktion auf Putins Münchner Rede. Wenn ihr Nachbar paranoid ist, kann er zur Gefahr werden. Putins Drohung, aus dem Vertrag über Kurz- und Mittelstrecken auszusteigen, ruft bei Europäern unangenehme Erinnerungen wach. Schließlich waren in den Achtzigerjahren sowjetische Raketen auf Europa gerichtet.
Putin spekuliert darauf, dass die Europäer den Druck an die USA weitergeben. Gleichwohl baut der Kreml nicht mehr darauf, einen Keil zwischen USA und EU treiben zu können. Anders steht es um Polen und Tschechien: Sie sollen isoliert werden, das alte Europa soll auf sie einwirken.
Warum gehen Polen und Tschechien so bereitwillig auf das US-Angebot ein?
Gegenüber Russland, für das sie keine zarten Gefühle hegen, signalisieren sie: „Wir befinden uns unter dem Schutz der USA.“ Die Polen machen aber auch keinen Hehl daraus, dass es ein Deal ist: Für die Basen erhalten sie von den USA Visafreiheit und andere Vorteile.
Könnte der Raketenabwehrschirm nicht auch Russland vor einem Raketenangriff aus dem Iran schützen?
Russland nimmt Teheran nicht als Bedrohung wahr. Wenn die USA verantwortungsbewusst vorgingen, hätten sie darüber aber mit Moskau reden müssen. Würden iranische Raketen vernichtet, fände dies über russischem Gebiet statt. Was mit Trümmern und Kollateralschäden passiert, ist ungeklärt.
Ist die ganze Angelegenheit vielleicht als Reaktion der USA auf den Verkauf eines russischen Raketenabwehrsystems an Teheran zu verstehen?
Man kann niemandem vorwerfen, dass er mit Äxten handelt. Wenn er diese aber an einen Betrunkenen verkauft, der allen droht, den Kopf einzuschlagen, ändert das natürlich die Ausgangslage.
Grundsätzlich führt der unilaterale Kurs der USA aber in ein Chaos. Sie wollen sich in der Auseinandersetzung mit „Schurkenstaaten“ nicht die Hände binden lassen. Die Folge ist: Nach 2012 wird kein Vertrag mehr in Kraft sein, der die Begrenzung von Nuklearwaffen regelt. Die Bush-Regierung hat viel zur Verbreitung von Atomwaffen beigetragen. Russische Bemühungen, die Proliferation einzudämmen und die nicht nur dem Streben nach Selbstbehauptung geschuldet sind, wurden konsequent ignoriert. INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH