: „So was hat’s bei uns nicht gegeben“
Schüler recherchierten über „Antisemitismus in der DDR“ und die Gründe, warum dort das Thema verdrängt wurde. Herausgekommen sind eine Ausstellung, unglaubliche Geschichten und Erklärungsversuche über Rechtsradikalismus
Das kleine Städtchen Hagenow, nördlich von Berlin gelegen, hatte einstmals ein reges jüdisches Gemeindeleben. Heute erinnert dort nichts mehr an jene Zeit. Verfolgten und ermordeten doch die Nazis die jüdischen Mitbürger des Ortes. Ausgelöscht aber wurden deren letzte Spuren und Erinnerungen in Zeiten der DDR. SED-Stadtobere etwa verfügten, den noch 1950 vorhandenen jüdischen Friedhof zu planieren. Die Grabsteine wurden als Baumaterial für Treppenstufen und Fundamente verwandt. Wohin genau die Steine verschwanden, schien gleichgültig. Erst jetzt ist dieser Akt der Verdrängung ans Licht geholt worden.
Schülerinnen und Schüler aus Berlin, Dessau oder Rostock haben im Rahmen eines Projekts der Amadeu Antonio Stiftung über „Antisemitismus in der DDR“ in Hagenow beziehungsweise ihrem eigenen Umfeld geforscht und noch andere, schier unglaubliche Geschichten zutage gefördert – darunter die Erkenntnis, dass in der DDR so gut wie keine Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte und dem Antisemitismus stattgefunden hat, der rechte Bodensatz dort darum umso besser gedeihen konnte und – wie im geschilderten Fall – Ignoranz und Gleichgültigkeit über das Erinnern obsiegten.
Bis zum 24. April 2007 sind im Rathaus Lichtenberg die Ergebnisse des Projekts in einer Ausstellung zu begutachten. Auf 36 Tafeln und über Monitore unterstreichen die Schüler dabei die These, dass jene politisch-ideologische Kultur in Unterricht, Medien und offiziellen Verlautbarungen nicht frei von Antisemitismus war, ja diesen gar konstituierte.
Es begann damit, dass die SED und DDR-Regierung von Beginn an in den Medien und im Unterricht sich und das Volk zu Antifaschisten erklärten – und damit das Erbe der NS-Täterschaft dem Westen zuschob. Zeitungsausrisse und Schulbücher demonstrieren die unglaubliche Zäsur und die Trennlinie, die damals die SED zwischen sich und der NS-Vergangenheit zog. Bis in die 70er-Jahre hinein etwa fanden Schüler nichts zum Thema aktueller Antisemitismus oder Zyklon B in ihren Schulbüchern, wie Steffen Andersch aus Dessau – wo Zyklon B hergestellt wurde – berichtete. Vielmehr entstand die Legende, „das hat’s bei uns nicht gegeben“.
Zugleich propagierte die DDR nach den Feldzügen Israels gegen Ägypten, Libanon und die Palästinenser in den 60er- und 70er-Jahren einen undifferenzierten Antizionismus – der nicht selten offen antisemitisch daherkam. Karikaturen im Stil des NS-Hetzblatts Der Stürmer oder Zeitungsberichte, in denen vom „israelischen Vernichtungskrieg“ die Rede war, erzeugten erneut ein Klima der Stigmatisierung des Judentums.
Dass jüdische Friedhöfe in der DDR in regelmäßiger Folge geschändet wurden, dies aber in der Öffentlichkeit tabuisiert wurde, oder dass Neofaschismus an Schulen und in Fußballstadien in Form von Pöbeleien oder Hakenkreuzschmierereien massiv auftrat, aber euphemistisch als „politisches Rowdytum“ abgetan wurde, bebildert die Schau mit Dokumenten eindringlich.
Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung und Mitinitiatorin des Projekts, sieht denn auch in der Nichtaufarbeitung und Verdrängung von NS-Geschichte und Antisemitismus die Ursachen für den heutigen Rechtsruck im Osten. „Diese ostdeutsche Variante der Verdrängung ist auch einer der Gründe, warum rechtsradikale Einstellungen in den neuen Bundesländern zugenommen haben“, erklärte Kahane zur Eröffnung der Ausstellung. Auch nach der Wende sei dort über Antisemitismus kaum gesprochen worden. Deshalb hielten sich im Osten noch immer so unausgegorene antisemitische Ansichten wie die früheren propagandistischen Vergleiche zwischen Israel und dem NS-Staat.
Die Schau räumt mit dem Mythos, die DDR sei ein antisemitismusfreies Paradies gewesen, also gründlich auf. Manchmal etwas zu gründlich. Vergisst sie doch etwa die Lehrer, Jüdischen Gemeinden und Dissidenten, die auch hier mutig den Finger in die Wunde legten.
ROLF LAUTENSCHLÄGER