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Archiv-Artikel

„Es ist anmaßend, Leute sterben zu lassen“

Das heutige Patentrecht setzt die falschen Forschungsanreize. Es lohnt sich finanziell am meisten, für verbreitete Leiden in den Industrieländern Medikamente zu entwickeln. Forschung für Arme lohnt sich nicht, meint Oliver Moldenhauer

OLIVER MOLDENHAUER, 36, koordiniert für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ den deutschen Teil der Kampagne zum Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. Die Hilfsorganisation befürchtet, dass ein Erfolg der Klage des Pharmakonzerns Novartis gegen die indische Regierung weltweit den Zugang zu erschwinglichen Medikamenten für Millionen Menschen gefährden würde. Info: www.aerzte-ohne-grenzen.de.

taz: Herr Moldenhauer, stimmt es, dass aus „Ärzte ohne Grenzen“ bald die „Ärzte ohne Medikamente“ werden?

Oliver Moldenhauer: Ganz so schlimm ist es noch nicht, aber in der Aids-Behandlung stehen wir vor großen Problemen. Weltweit gibt es rund 40 Millionen HIV-Infizierte, davon 30 Millionen im südlichen Afrika. Letztes Jahr sind etwa drei Millionen Menschen an Aids gestorben. Dabei ist die Krankheit aufhaltbar. Dank der Nachahmer-Medikamente sind die Behandlungskosten seit dem Jahr 2000 um 99 Prozent gefallen. Aids-Generika kosten pro Patient nur noch 130 US-Dollar pro Jahr. Allerdings werden die allermeisten dieser Menschen Resistenzen entwickeln und die nächste Generation der Aids-Medikamente benötigen. Diese werden für sie unbezahlbar sein, solange bestimmte Pharmafirmen Monopole auf einzelne Wirkstoffe halten.

Wieso sind die Arzneipatente für Entwicklungsländer neuerdings so ein großes Problem?

Seit 2005 müssen Schwellenländer wie Indien auf neue Arzneiwirkstoffe Patente gewähren. Das sieht Trips, das Abkommen zu geistigem Eigentum der Welthandelsorganisation (WTO), vor. Dadurch erhalten die Pharmafirmen Herstellungsmonopole und können die Preise für einige Jahre beliebig festsetzen. Bislang gilt Indien als „Apotheke der Armen“, weil es mit einer starken Generika-Industrie Medikamente für Entwicklungsländer produziert. Die Nachahmung neuerer Medikamente ist aber in Zukunft nicht mehr so einfach möglich. Würden Herstellungsmonopole in Indien rücksichtslos ausgenutzt, wäre dies das Todesurteil für Millionen. Denn ohne preiswerte Generika kann sich nur ein Bruchteil dieser Menschen die Aids-Behandlung leisten. Die anderen müssten sterben.

Der Schweizer Pharmakonzern Novartis klagt am Exempel seines Blutkrebsmedikaments Glivec gegen das indische Patentrecht. Was ist dagegen einzuwenden?

Das indische Recht sieht vor, dass Weiterentwicklungen oder leichte Veränderungen von Arzneimitteln nicht patentiert werden dürfen. Dazu gehören viele Aids-Medikamente, und Novartis klagt jetzt im Rahmen des Rechtsstreits um Glivec gegen diesen Passus. Glivec wäre daher nur der Anfang. Hunderttausende Patienten hätten keinen Zugang mehr zu patentierten Medikamenten, weil sie diese nicht mehr bezahlen könnten. Dabei ist es Indiens gutes Recht, sein nationales Patentrecht im Rahmen der Regeln der WTO den eigenen Erfordernissen anzupassen.

Westliche Pharmakonzerne wie Novartis beharren aber auf dem Patentschutz, weil sie bloß so die Forschungskosten wieder hereinholen und zukünftige Forschung finanzieren könnten.

Die Forschungsausgaben der Pharmakonzerne werden durch die Märkte des Nordens mehr als gedeckt – die Pharmaindustrie zählt mit Gewinnmargen zwischen 25 und 35 Prozent zu den profitabelsten überhaupt. Novartis hat 2006 7 Milliarden Euro Gewinn gemacht und steckt mehr Geld in die Werbung als in die Forschung. Der afrikanische Kontinent spielt für die Pharma-Profite keine Rolle. Er macht gerade einmal 1 Prozent des globalen Pharmamarktes aus.

Ist es nicht anmaßend, den Pharmafirmen zu verordnen, wann sie genug Profit gemacht haben?

Es ist anmaßend, Leute sterben zu lassen, weil man auf seinem Monopolrecht beharrt. Es geht nicht darum, dass wir den Firmen Verluste zumuten wollen. Gerade in den Schwellenländern haben es die Konzerne aber auf eine wachsende Mittelschicht abgesehen, die sich teure Medikamente leisten kann. Sie wollen lieber an den 10 Prozent der wohlhabenden Kranken richtig Geld verdienen, als für alle Patienten Medikamente billig zur Verfügung zu stellen.

Werden bei diesen Patentstreitigkeiten nicht die Armen vorgeschoben für einen Kampf um viel Geld und Marktanteile? Indien ist schon heute eine Generika-Weltmacht. Seine Konzerne produzieren 70 Prozent aller Nachahmer-Medikamente und verdienen drei Viertel ihres Geldes in Industrieländern.

Auch indischen Pharmakonzernen geht es nicht vordringlich um die Armen in Afrika. Sie streben nach Profiten und Marktanteilen. Dagegen haben wir auch nichts. Aber ihr Geschäftsmodell rettet Millionen Aids-Patienten das Leben, weil sie große Mengen Medikamente zu günstigen Preisen produzieren. Einige Pharmakonzerne verdammen dieses erfolgreiche Geschäftsmodell. Damit verdammen sie den Wettbewerb, der Medikamente für alle bezahlbar macht.

Ist es aber nicht unfair, dass kommerzielle Unternehmen wie Novartis dafür herhalten müssen, dass Politiker bezahlbare Medikamente für alle versprochen haben?

Novartis bildet sich viel auf seine Rolle als sozial verantwortlich handelndes Unternehmen ein. Da sollte man es beim Wort nehmen. In einem Punkt hat Novartis allerdings recht: Man benötigt andere Mechanismen als das heutige Patentrecht, um für Krankheiten, die in reichen Ländern niemand kriegt, neue Medikamente zu erforschen.

Wieso werden Krankheiten wie Tuberkulose oder Chagas so wenig erforscht, obwohl Hunderttausende daran sterben?

Das heutige Patentrecht setzt die falschen Forschungsanreize. Es lohnt sich finanziell am meisten, für verbreitete Leiden in den Industrieländern Medikamente zu entwickeln und mit einem eigenen Patent in diese lukrativen Märkte einzusteigen. Forschung für Arme lohnt sich nicht. Ein Beispiel: Heute wird viel mehr Forschungsaufwand in Zeitgeistmedikamente wie Viagra gesteckt als etwa gegen die Schlafkrankheit. Bis vor kurzem wurde hier ein 60 Jahre altes Mittel eingesetzt, das große Mengen Arsen enthält. 5 Prozent der Patienten sterben daran. Das neuere Medikament Eflornithin ist nur deshalb wieder auf den Markt gekommen, weil es bei uns als Creme gegen Damenbärte vermarktet wird. Die Wirkung gegen die Schlafkrankheit ist lediglich ein Nebeneffekt. Dieses System ist krank. Die Medikamentenforschung muss sich stärker nach den Bedürfnissen der Menschheit richten.

Wie kann man erreichen, dass mehr Medikamente für armutstypische Krankheiten entwickelt werden?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte eine Kommission zum Thema geistiges Eigentum, Innovation und Gesundheit eingesetzt. Sie bringt verschiedene neue Alternativen in die Debatte, zum Beispiel den Vorschlag, Herstellern neuer Medikamente einen bestimmten Absatz zu garantieren, damit sich deren Entwicklung rentiert. Ein anderer Vorschlag sind Geldpreise für neue Arzneien als Erfolgsprämie anstelle von Patenten. Weil dann andere Hersteller das neue Arzneimittel sofort produzieren können, würde sich so die Effizienz der Medikamentenforschung insgesamt verbessern. Bis Ende des Jahres will die WHO konkrete Vorschläge für Patent-Alternativen erarbeiten. Ebenfalls muss mehr für die Forschungsförderung im klassischen Sinn getan werden: Für die Forschung an Tuberkulose- oder Malaria-Medikamenten muss mehr Geld aufgewendet werden.

INTERVIEW: TARIK AHMIA