: Wenig Macht, viel Ohnmacht
Auf dem Papier wirken die Gewerkschaften erfolgreich: Rund 4 Prozent mehr Lohn versprechen die Tarifverträge. Tatsächlich dürften nur etwa 2 Prozent herauskommen
Dierk Hirschel ist Chefökonom beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Konjunkturanalyse und Makropolitik. Zuletzt erschien sein Buch „Einkommensreichtum und seine Ursachen“ beim Metropolis Verlag.
Gewerkschaften lieben den Aufschwung. Wenn die Wirtschaft wächst und der Arbeitsmarkt blüht, dann wächst die Macht von Ver.di, IG Metall & Co. Weniger Arbeitslose konkurrieren um mehr offene Stellen. Volle Auftragsbücher und lange Lieferzeiten erlauben keine Produktionsausfälle, sodass die Arbeitgeber Streiks möglichst vermeiden wollen. Da die Gewinne sprudeln, zeigen sich Vorstände und Geschäftsführer lieber spendabel. Der aktuelle Aufschwung bietet hierfür großes Kino: Zwei bedeutende Tarifrunden – Chemie und Bau – wurden geräuschlos und erfolgreich abgeschlossen. Unter dem Strich erhalten über 1,2 Millionen Beschäftigte zwischen 3,5 und 4,3 Prozent mehr Lohn. Das kann sich sehen lassen. Nun fordern auch die 3,4 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie ihren Anteil am Wirtschaftswachstum.
Starken Vereinen tritt man gern bei. Erfolgreiche Tarifrunden sind gewerkschaftliches Lebenselixier. Doch leider ist die Realität härter, als es die hohen Abschlüsse vermuten lassen. So ist längst nicht in allen Branchen damit zu rechnen, dass die Löhne so stark steigen wie in der Automobil-, Stahl- oder Chemieindustrie. Deren Großbetriebe sind traditionelle gewerkschaftliche Hochburgen: Wenn vier von fünf Beschäftigten organisiert sind, dann ist oft schon ein angedrohter Warnstreik wirkungsvoll. Im Hotel- und Gaststättengewerbe hingegen dominieren die Klitschen – im Durchschnitt kommen auf einen Betrieb weniger als vier regulär Beschäftigte, die meist nicht organisiert sind.
Auch im Einzelhandel und Handwerk gibt es große betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen. Dort sind Abschlüsse wie in den großen Industriebranchen kaum durchzusetzen. Die professionellen Auguren prognostizieren daher, dass die durchschnittlichen Tariflöhne 2007 insgesamt wohl nur um 2 Prozent steigen.
Im Vergleich mit den vergangenen Krisenjahren wäre dies zwar ein Aufwärtstrend – trotzdem dürften viele Arbeiter und Arbeitnehmer davon kaum etwas bemerken. Denn die offiziellen Tarifgehältern kommen heute bei immer weniger Beschäftigten an. In den letzten zehn Jahren stiegen die Tariflöhne doppelt so stark wie die allgemeinen Bruttolöhne und -gehälter (Effektivlöhne). Diese Abweichung der Effektiv- von den Tariflöhnen wird als „negative Lohndrift“ bezeichnet und hat mehrere Ursachen: Selbst wenn Unternehmen noch offiziell nach Tarif zahlen, nutzen sie immer häufiger die tariflich vereinbarten Öffnungsklauseln und weichen nach unten ab. Oder aber sie kürzen die übertariflichen Leistungen. Zudem fallen immer weniger Beschäftigte überhaupt unter einen Flächentarifvertrag. Im Westen sind noch zwei von drei Arbeitnehmern tarifgebunden, im Osten ist es nur noch jeder Zweite.
Darüber hinaus wächst die prekäre Beschäftigung. Nur noch zwei von drei Arbeitnehmern haben einen unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplatz. Dazu passt, dass im aktuellen Aufschwung jeder zweite neue Job in der Zeitarbeitsbranche entsteht. Mini-, Midijobs, Ich-AGs und Hartz IV drücken ebenfalls auf die Bruttolöhne.
Auf dem Arbeitsmarkt geht es immer um Machtfragen. Er ist kein klassischer „Kartoffelmarkt“, indem der Preis Angebot und Nachfrage reguliert. Denn zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herrschen keine gleichen Wettbewerbsbedingungen; sie befinden sich nicht auf Augenhöhe. Arbeitnehmer müssen bekanntlich unbedingt ihre Arbeitskraft verkaufen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zudem sind sie nicht so grenzenlos mobil wie das Kapital. Familie, soziale Netze oder Wohneigentum binden Beschäftigte an lokale Arbeitsmärkte. Das alles macht sie erpressbar. Ohne gewerkschaftlichen und gesetzlichen Schutz sind sie den Arbeitgebern ausgeliefert.
Doch die Politik hat die Marktmacht der Arbeitnehmer nun noch weiter geschwächt. Dazu gehört die staatliche Förderung der geringfügigen Beschäftigung und der Zeitarbeit, die verschärften Zumutbarkeitsregelungen bei Hartz IV sowie die Absenkung des Arbeitslosengeld II und der verkürzte Bezug von Arbeitslosengeld I. Das alles zwingt die Beschäftigten, auch niedrigere Löhne zu akzeptieren. Sinken jedoch die Löhne, dann wird nicht etwa weniger gearbeitet – sondern jeder Beschäftigte versucht, noch zusätzliche Tätigkeiten auszuüben. Dieses Überangebot an Arbeitskräften lässt die Löhne dann weiter fallen.
Die preisbereinigten Bruttolöhne stagnieren seit Mitte der 90er-Jahre. In den letzten drei Jahren sanken sie sogar. Der verteilungsneutrale Spielraum – Inflation plus Produktivitätszuwachs – konnte nicht mehr ausgeschöpft werden. Die Löhne hinken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hinterher. Einerseits stärkt dies zwar die Wettbewerbsfähigkeit und macht Deutschland seit Jahren zum Exportweltmeister. Andererseits zeigt sich auf dem Binnenmarkt eine chronische Konsumschwäche. Da aber vier von fünf Arbeitsplätzen von der Binnenwirtschaft abhängen, fällt die Gesamtbilanz der Lohnzurückhaltung negativ aus. Über 1,2 Millionen Arbeitsplätze sind in den letzten zehn Jahren durch den Lohnverzicht verloren gegangen. Dass der Wachstumsmotor heute wieder brummt, ist hierzu kein Widerspruch. Nach fünf mageren Jahren erleben wir eine Ersatz- und Modernisierungswelle in den Betrieben. Mit großer reformerischer Entfesselungskunst und heilsamer Zwangsdiät hat dieser klassische Investitionszyklus überhaupt nichts zu tun.
Sobald der Investitionsstau aufgelöst ist, dürfte die Party wieder vorbei sein, denn ein sich selbst tragender Aufschwung erfordert steigende Arbeitseinkommen. Doch die Beschäftigten haben real immer weniger auf dem Konto: Trotz des starken Wirtschaftswachstums konnten die durchschnittlichen Lohnsteigerungen noch nicht einmal die Inflation kompensieren. Das hat es in der bundesdeutschen Geschichte noch nicht gegeben. Folglich dümpelt der private Verbrauch weiter vor sich hin. Die strukturelle Lohnschwäche droht zu einer dauerhaften Wachstums- und Beschäftigungsbremse zu werden.
Die Gewerkschaften streiten gegenwärtig tapfer für eine lohnpolitische Trendwende. Die jüngsten Erfolge zeigen auch, dass sie auf einem guten Weg sind. Doch Tarifpolitik allein wird es nicht richten können. Die Regierung muss für bessere Regeln auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Hierzu gehört die Reform der geringfügigen Beschäftigung. So sind die Mini- und Midijobs wieder einzuschränken, die zur Zerstückelung von regulären Arbeitsplätzen führen. Auch unsere westeuropäischen Nachbarstaaten kommen bestens ohne diese staatliche Subvention und Förderung von Billigjobs zurecht. Gleichzeitig muss ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden, der in den meisten europäischen Ländern längst Standard ist. Und schließlich ist Hartz IV zu reformieren. Denn ohne eine deutliche Stärkung der Marktmacht der Arbeitnehmer gehen wir schwierigen Zeiten entgegen. DIERK HIRSCHEL