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Archiv-Artikel

Ich ermittle eine Familie

Der Wochenendkrimi: Das Thema Kinderkriegen erreicht mit Mama in spe Charlotte Lindholm den „Tatort“. Doch „Das namenlose Mädchen“ (So., 20.15 Uhr, ARD) ist mehr als Von-der-Leyen-Lehrstück

Der Junge schreit und schreit und schreit, an Schlaf ist nicht zu denken. Der Vater kehrt von der Nachtschicht in einer Tankstelle heim, kurz drauf muss die Mutter zur Arbeit. Man gibt sich die Klinke in die Hand und tauscht statt Küssen noch schnell ein paar Vorwürfe aus. Eigentlich sollte in diesen frühen Morgenstunden eine Studentin auf den Sohn aufpassen, der unter einer besonders schweren Aufmerksamkeitsstörung leidet. Doch die Babysitterin kommt nicht, der übernächtigte Vater muss dem hibbeligen Kind selbst Frühstück zubereiten, das Unglück nimmt seinen Lauf. Der kleine Sohn erstickt an einem Toast – und die Studentin, die ihn hüten sollte, wird später tot in einem Güterwaggon gefunden.

Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) wühlt dieser Fall mehr als andere auf. Nicht ganz unschuldig daran ist der Umstand, dass sie sich kurz zuvor hektisch einen Schwangerschaftstest besorgt hat – der positiv ausgefallen ist. Der Erzeuger wird als Miterzieher nicht zur Verfügung stehen, fungierte er doch nur als Kurzzeit-Liebhaber während eines Auslandsseminars. Lindholm will das Baby trotzdem.

Der Mord an der Studentin rückt in diesem „Tatort“ aus der Heimat der Bundesfamilienministerin bald aus dem Fokus, stattdessen schiebt sich die Frage in den Vordergrund, weshalb man sich für Kinder entscheidet und wie man ihre Betreuung organisiert. Doch „Das namenlose Mädchen“ (Buch: Khyana el Bitar und Matthias Keilich, Regie: Michael Gutmann) ist viel mehr als ein schlichtes Von-der-Leyen-Thesenstück. Was vor allem der psychologischen Tiefe zu verdanken ist, mit der die angespannte Situation innerhalb der Familie geschildert wird, die sich durch aufreibende Doppelschichten gegen den drohenden Hartz-IV-Status stemmt. Der Vater und die Mutter des erstickten Kindes – von dem immer großartiger werdenden Martin Brambach und der sowieso immer großartigen Ulrike Krumbiegel gespielt – scheitern ebenso tragisch wie glaubhaft an ihrem Alltag.

Wie Kommissarin Lindholm den für sich bewältigen wird, bleibt abzuwarten. Höchstwahrscheinlich spannt sie Mitbewohner und Mutter ein, was denn ein schönes Beispiel für eine etwas andere Familienorganisation wäre. Und wenn die Polizistin in der nächsten Folge hochschwanger ermitteln wird, macht sie das hoffentlich mit so nüchternem Gebaren wie einst die kugelbäuchige Kollegin Frances McDormand in „Fargo“. Die leuchtenden Kinderaugen und drolligen Windmühlchen, mit der in dieser ansonsten angenehm unkitschigen „Tatort“-Folge Lindholms Entscheidung für das Kind flankiert werden, wollen wir in Zukunft jedenfalls bitte nicht mehr sehen. CHRISTIAN BUSS