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Hobby-Entertainer an der Kurbel

AUS GREVENBROICH LUTZ DEBUS

Es orgelt von überall her. Dicht gedrängt schieben sich an diesem sonnigen Frühlingstag die Menschen durch die enge Fußgängerzone von Grevenbroich. In dem Städtchen, nördlich von Köln zwischen ein paar Braunkohlekraftwerken gelegen, findet ein Wochenende lang das Jahrestreffen der Drehorgelspieler statt. Knapp 500 Leierkästenfrauen und -männer sind zur Hauptversammlung des Clubs Deutscher Drehorgelfreunde angereist.

Unmittelbar vor einem Drogeriemarkt hat sich der „Walsumer Drehorgel-Hans“ aufgebaut. Aus seinem hölzernen Kasten erklingt der Klassiker von der Berliner Luft, Luft, Luft; dabei kommt der kräftige Mann aus Duisburg. Er war sein ganzes Arbeitsleben lang Rohrschlosser bei Thyssen. Seit 26 Jahren spielt er auf seinem „Schätzchen“. Erst 26 Jahre, wie er sagt. Denn diese Art von Musik begeistere ihn, seit er denken könne. „Schon als Kind hat mich meine Mutter immer beim Leierkastenmann gefunden, wenn ich beim Einkaufen verschwunden war.“ Hans van der Linde ist Jahrgang 1936. „Da gab es noch keine CDs. Zu Hause plärrte nur der Volksempfänger. Und da kam nur Schiet raus.“ Die Reden des Führers oder die Musik jener Zeit? Van der Linde zuckt mit den Schultern und wiederholt: „Nur Schiet.“

Kriegsversehrte

Auch später habe die Liebe zur Drehorgel nicht nachgelassen. „Anfang der Sechziger war ich mit meiner Frau bei den Lichterwochen in Essen. Und da habe ich endlich wieder einen Leierkasten gesehen. Meine Frau hat mich da gar nicht von weg gekriegt.“ Später wurde er Büttenredner. Zunächst nur als Begleitinstrument für seine Witze hat er sich einen Leierkasten gekauft. Doch seitdem dreht er nicht nur zur Karnevalszeit an der Kurbel. „Täglich“, gesteht er fast schüchtern. Besonders freut er sich immer auf das Jahrestreffen. Höhepunkt sei da das Buffet. „Jeder bringt was mit, manche sogar die eigene Frau“, sagt er und grinst verschmitzt seine Frau an. Die steht neben ihm, verteilt Handzettel mit seiner Adresse. Sie hat sich offenbar längst mit ihrem Mann und seinem seltenen Hobby abgefunden.

Ein paar Schritte weiter steht Wolfgang Rondke in schwarzer Schornsteinfegermontur. „Lassen Sie gefälligst die Frau hier fotografieren“, pöbelt er einen Passanten an, der zufällig vor die Linse einer älteren Dame läuft. Sie wollte gerade ein Foto von einem kleinen Holzäffchen auf einem Leierkasten machen. Der Getadelte guckt einen Moment lang erschrocken, erwidert dann aber das breite Grinsen des unechten Kaminkehrers. Wolfgang Rondke kommt aus Dortmund und nennt sich „Schnäuzchen“ – wegen seines imposanten, silberblonden Schnurrbarts. „Wir alle haben Künstlernamen, kennen uns auch nur so“, erklärt er. Mit seiner Freundin, dem „Klosterspatz aus Heidelberg“, steht er an einem Leierkasten. Eigentlich wollten sie zusammen auftreten. Aber sein Kasten hat technische Probleme bekommen, muss erstmal in die Werkstatt.

So steht der Möchtegern-Schornsteinfeger jetzt ohne eigene Drehorgel neben einer freundlich lachenden Frau, die sich als Clown verkleidet hat. Gerade zeigt die Mittfünfzigerin einem Mädchen, wie man an der Kurbel dreht und den mit Kunstfell bespannten Holzaffen mit den vielen kleinen Hebeln, Schaltern und Knöpfen zum Leben erweckt. Auf Knopfdruck, ganz ohne Elektrik, kann das Äffchen die Augenbrauen heben, die Hand, die einen Geldbeutel hält, ausstrecken, mit dem Strohhut grüßen, das Maul öffnen und mit den Augen zwinkern. Der „Klosterspatz“ erzählt dem staunenden Mädchen von dem mechanischen Tier: „Über 5.000 Mark habe ich für den Affen damals bezahlt. Und heute kam ein ganz alter Mann hier vorbei, der hat ihn wiedererkannt. Vor über 40 Jahren hat er ihn selbst gebaut“, erzählt sie. Ganz glücklich sei der Alte gewesen, seine Konstruktion wiederzusehen.

„Schnäuzchen“ weiß viel über die Drehorgelkunst zu berichten. Früher hatten die Leierkastenmänner lebendige Affen, die den Passanten das Geld aus der Tasche zogen. Aber das sei mit modernen Vorstellungen des Tierschutzes nicht vereinbar. Früher hatten die Leierkastenmänner auch einen ganz anderen Status. Nach dem Ersten Weltkrieg, so erklärt Rondke, hätten sich die Kriegsversehrten in Berlin Drehorgeln leihen können, um so für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. „Wer noch einen Arm hatte, konnte drehen. Eine Rentenkasse gab es ja noch nicht.“ Das sei so etwas wie ein ehrenhaftes Betteln gewesen.

Klangerlebnis

Rondke selbst dreht aus Passion. Mit seinem automatischen Instrument war er schon in Griechenland, Ungarn, Frankreich, auf Mallorca und Grand Canaria. Sogar nach Brasilien begleitete ihn sein Kasten. Wolfgang Rondke war 27 Jahre Bergmann unter Tage. „Ich habe mir ein Hobby gesucht, das nicht einsam macht.“ Sonst hätte er ja auch Briefmarken sammeln können. Den Trubel einer Fußgängerzone genießt der Rentner. Zu jedem Passanten fällt ihm eine Bemerkung ein. „Gnää‘ Frau hat aber ein wohltuend ausschauendes Hütchen“, ruft er einem Teenager mit Basecap auf dem Kopf zu. Die Musik von der Walze, so glaubt Rondke, ziehe die Leute magisch an. „Zu uns kommt der letzte vom Bahnhofsvorplatz und der Erste Bürgermeister.“

Vor der Filiale eines Kaffeerösters steht ein seltsames Gespann. Zwei Leierkastenmänner haben ihre Instrumente mit einem elektrischen Spiralkabel verbunden. Beide Männer kurbeln. Synchron erklingt ein altes Volkslied aus den USA. Einer der beiden Leierkastenmänner erklärt das kleine Wunder. Die ersten Leierkästen seien noch mit Messingwalzen gelaufen. Dann gab es die Papierstreifen. Später wurden die Melodien auf Magnetbändern gespeichert. Die modernen Geräte werden durch einen elektronischen Chip gesteuert. „Das Tempo kann ich mit einem Regler einstellen. Kurbeln muss ich nur noch für den Luftdruck.“ Durch das Kabel könne er so auch die Drehorgel seines Nachbarn mitspielen. So entstehe ein vielseitiges Klangerlebnis.

In der DDR verboten

Helmut Eckhardt spendet sein gesammeltes Geld einem Behindertenwohnheim. Der pensionierte Postbeamte aus dem sauerländischen Marsberg hat sich seit einiger Zeit mit „Drehorgel-Willi“ zusammen getan. Oft treten sie im Tandem auf. Willi kommt aus Thüringen, aus Hundeshagen. Das war, so erzählt der 54-jährige, einmal eine Drehorgelhochburg. 1914 habe es in dem kleinen Dorf im Eichsfeld über 60 Leierkastenmänner gegeben. Seine Familie kurbelt bereits in der vierten Generation. Sein Urgroßvater, sein Großvater...

Dann stockt Wilhelm Reimanns Erzählung. Der Großvater hätte in den Sechzigern seine Orgel verkauft. „In der DDR war ab 1954 das Wandermusikgewerbe verboten“, sagt der schmächtige Mann in Frack und Zylinder. „Meine Mutter konnte nur noch in den eigenen vier Wänden spielen.“ Dafür sei so eine Orgel doch nicht gebaut worden. Aus der Not hätten sie sich von dem Instrument trennen müssen. Erst vor vier Jahren konnte sich Wilhelm Reimann ein fast neues Instrument kaufen. „So teuer wie ein Kleinwagen“, schnauft er. Aber das sei es ihm wert gewesen, der Klang erinnere ihn an früher.

Dann beginnen der Mann aus Thüringen und der Mann aus dem Sauerland gemeinsam das nächste Lied: „Take me home, country road“. Eine Gruppe von Jugendlichen bleibt stehen. Ein schlacksiger Junge nimmt sich den Kopfhörer von den Ohren. „Ey, das Stück kenn ich doch. Das ist doch so ein cooler Techno.“ Tatsächlich gibt es mittlerweile von John Denvers Schmachtfetzen auch eine zeitgenössische Version. Aber die ist dann doch eher auf dem MP3-Player zu hören als vom Leierkastenmann.

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