piwik no script img

Archiv-Artikel

Schulen der Hoffnung

AUS HERAT ERICH RATHFELDER

Vielleicht ist die Stadt Herat in Westafghanistan eine Insel. Oder die Schreckensnachrichten aus Afghanistan verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Hier, in der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, verläuft das Leben normal. So normal, wie es in einem unterentwickelten Land mit hoher Arbeitslosenrate eben verlaufen kann. Es gibt ein paar Reiche, die dünne Mittelschicht der Händler kämpft ums Überleben, und die zahllosen Armen müssen sich für wenig Geld von weit unter 100 Euro monatlich zu allen Bedingungen verdingen. 16 Stundentage sind keine Seltenheit.

Die Stadt Herat, mit geschätzten eine Million Menschen, ist zudem nicht vergleichbar mit den Provinzen Kandahar oder Helmand, wo die Taliban Rückhalt in der paschtunischen Bevölkerung haben sollen. Hier spricht man vor allem Farsi, also Persisch, hier lebt ein Völkergemisch aus Tadschiken, Hazara und auch Paschtunen, hier gibt es Sunniten und Schiiten. Das traditionsreiche Herat war einmal Knotenpunkt der Seidenstraße, zeitweise sogar Zentrum des Persischen Reiches. Die berühmte Freitagsmoschee steht auf einem heiligen Ort, der schon 4.000 Jahre vor dem Islam von unterschiedlichen Religionen genutzt wurde.

Keine Internationalen

Der Lauf der Geschichte hat die Stadt an den Rand gedrückt. Seit dem Sturz des Talibanregimes hoffen die Bewohner auf einen Aufschwung. Doch die anfängliche Euphorie ist versiegt. Denn die internationale Gemeinschaft hat sich mit wenigen Ausnahmen aus der Region zurückgezogen. Ein vor wenigen Jahren mit großem Aufwand aufgebautes deutsches Konsulat, umgeben von hohen Mauern und Stacheldraht, hat vor zwei Jahren geschlossen. Die Internationalen haben sich vor allem in Kabul festgesetzt, wo 360 Hilfsorganisationen ihre Büros haben und die Internationale Schutztruppe Isaf ihren Kommandostab hat.

Nicht einmal die internationalen Soldaten sind, wie bei Auslandseinsätzen anderswo üblich, in den Straßen Herats zu sehen. Die über 2.000 Soldaten des italienischen Kontingents haben sich am Flughafen eingebunkert. Dabei sollte die Truppe doch nach allen Plänen und Verlautbarungen der Isaf zum Wiederaufbau beitragen, sollte die Hilfsorganisationen schützen, sollte für die zivile Strategie, für das zweite Standbein der internationalen Präsenz, stehen.

„Mit dem Militär haben wir nichts zu tun. Wir führen unsere Projekte unabhängig durch,“ sagt Rupert Neudeck. Der 67-Jährige hat einst die Hilfsorganisation Cap Anamur mitbegründet und ist in Herat Motor der Organisation „Grünhelme“, eine der wenigen dort noch tätigen unabhängigen Hilfsorganisationen.

Bauingenieur Zobair Akhi, 38 Jahre alt, Exilafghane mit deutschem Pass, leitet das Projekt vor Ort. Ins Büro der Organisation in der Provinzhauptstadt Herat kommen ständig Vertreter aus den Dörfern. So wie der 32-jährige Abdul Qadir aus dem Dorf Shermast im Bezirk Kharokh. „Wir brauchen unbedingt Schulen“, sagt Qadir. „Zum ersten Mal können unsere Kinder für die Zukunft lernen.“

„Die Taliban haben alle Schulen geschlossen, die Erwachsenen auf dem Land sind Analphabeten, doch sie wollen besser leben, sie wollen ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen“, sagt Rupert Neudeck. Und deshalb bauen die Grünhelme Schulen in ländlichen Gebieten. „Die Leute müssten fühlen, dass es vorwärtsgeht, das ist die Strategie hin zum Frieden“, ist Neudeck nach Jahren in der Entwicklungsarbeit überzeugt. Immerhin habe die neue Regierung nach dem Sturz der Taliban das Erziehungswesen reorganisiert. Doch es fehlten die Mittel. In der Kleinstadt Karokh, Hauptort des gleichnamigen Distrikts 30 Kilometer nordöstlich von Herat, fordert der Direktor der Schule schon seit Jahren vom Erziehungsminister der Provinz einen Neubau.

Klamme Zimmer

Wie dringlich der ist, zeigt sich schon auf den ersten Blick. Am Eingang der Schule liegt gleich links der erste Klassenraum: ein fensterloser Verschlag aus Lehm, dunkel, im Winter kalt, weil die Tür immer offen stehen muss, um etwas Licht hereinzulassen. In dem drei mal vier Quadratmeter zählenden Raum sind 25 Schüler der dritten Klasse zusammengedrängt, sie hocken auf verschlissenen Teppichen. Der Geruch ist für normale Nasen unerträglich.

Auch in den anderen Klassenzimmern sieht es nicht anders aus. Es gibt keine sanitären Anlagen, die den Namen verdienen. Jungen und Mädchen werden, wie in allen Schulen üblich, getrennt unterrichtet. Vormittags steht die Schule in 12 Klassen den Jungen zur Verfügung, nachmittags in 15 Klassen den Mädchen oder umgekehrt. 12 Lehrer und 15 Lehrerinnen versuchen hier unter diesen Bedingungen 1.150 Schüler und Schülerinnen zu unterrichten.

Um Geld für neue Schulen zusammenzubekommen, will Neudeck Schulen im Raum Hannover ansprechen. Sie sollen helfen, wie vor drei Jahren die Schüler und Lehrer aus Buchen, einem Ort im Odenwald. Sie haben damals über 40.000 Euro gesammelt, und schon im Sommer 2005 stand die Schule in Chagmagh, einem Ort desselben Bezirks. 1.400 Schüler und Schülerinnen werden dort bis zur zwölften Klasse unterrichtet. Das Schulgebäude ist bungalowähnlich gebaut, einfach und praktisch, mit hellen Klassenräumen und ordentlichen Fenstern. Noch vor zwei Jahren wurden die Kinder unter freiem Himmel oder in ähnlich dunklen Verschlägen wie in Karokh unterrichtet.

Lernen in der Hocke

Die neuen Schulbänke allerdings vergammeln auf dem Hof. Auch in den neuen Räumen sitzen die jungen Afghanen lieber wie zu Hause in Hockstellung auf Teppichen als auf den ungewohnten Bänken. In einer Klasse lernen die Schüler gerade die zweite wichtige Sprache in Afghanistan, Paschtu. Sie wiederholen im Chor die vom Lehrer vorgegebenen Wörter. „Ab der vierten Klasse lernen sie auch Englisch“, sagt ein Lehrer und bringt selbst nur mit großer Mühe diesen Satz in englischer Sprache hervor. Das Niveau der Lehrer sei nicht sehr hoch, gibt Neudeck zu und will nach dem Bau der Schulen vor allem für eine bessere Lehrerausbildung sorgen. Aber wichtig sei zunächst, dass die Kinder überhaupt zur Schule gehen können.

Es ist Mittag geworden. Die Jungen verlassen das Gelände. Die ersten Mädchen treffen ein, das Haar unter dem üblichen Schador verborgen. Um das Gelände der Schule ist eine Mauer gebaut, der Innenhof soll von außen nicht einsehbar sein. „Die Eltern wollen es so“, sagt der Schuldirektor. Gemeinsamen Unterricht für Mädchen und Jungen gibt es nicht, das würde doch noch viele Widerstände wecken. „Wir sind schon froh, dass niemand mehr generell gegen den Unterrricht für Mädchen ist“, sagt der Direktor. Aber: Ob die Leute aus Buchen wohl auch bereit wären, einen Sportplatz zu finanzieren?

„Wir stellen direkte Kontakte her zwischen den Schülern und Lehrern hier und in Deutschland“, sagt Neudeck. Aber er versucht nicht nur Schulen für ein Engagement in Afghanistan zu überzeugen. Er konnte auch die CDU-Fraktion im Bundestag bewegen, eine Grundschule im Nachbardorf zu finanzieren. „Die haben ihr Versprechen gehalten“, sagt Neudeck und freut sich über die „Konrad-Adenauer-Schule“.

Die Landschaft im Distrikt Karokh ist hügelig und leidet normalerweise unter Trockenheit. Die von Mauern umgebenen Lehmhäuser mit ihren Kuppeln bieten ein malerisches Panorama. Hier lebt noch das alte Afghanistan. Die Frauen tragen nicht die inzwischen in den Städten übliche Burka, sondern lediglich ein schwarzes Tuch über ihrer Kleidung. Bis Anfang April hat es stark geregnet, die im Sommer ausgetrockneten Flüsse sind über die Ufer getreten, Brücken und Straßen wurden weggeschwemmt.

Der japanische Pick-up der Grünhelme quält sich über Stock und Stein, Zobair Akhi gelingt es jedoch, das Gefährt in Richtung eines hohen Gebirgszugs durch die reißenden Flüsse und Bäche zu dirigieren, um zu einem Gebirgsdorf zu gelangen, in dem schon die Fundamente einer neuen Schule gelegt werden. Doch in dem Dorf Ghuriha am Fuß der Berge geht es nicht weiter, die Spuren im Sand, an denen Zobair die Fahrspur erkennen könnte, sind weggeschwemmt, Erdrutsche verhindern die Weiterfahrt. Material für den Schulbau heranzuschaffen, ist unmöglich, bis die Straße instand gesetzt ist. Die jungen Männer, die man für den Wiederaufbau bräuchte, seien allesamt im Süden, um auf den Mohnfeldern zu arbeiten, klagt Dorfvorsteher Abdullah. Die karge Region biete ihnen kaum Perspektiven. Abdullah lädt die Gäste zum Tee. Die Männer des Dorfes tragen die üblichen Turbane, die weiten Baumwollhosen mit dem bis zu den Knien reichenden Hemd.

Bei der feierlichen Eröffnung der 20. von den Grünhelmen gebauten Schule in Drachtut mit rund 500 Schülern fordert Neudeck unter dem Beifall der Anwesenden, dass der Distrikt Karokh der erste in Afghanistan sein soll, in dem alle Kinder zur Schule gehen können. Die Grünhelme wollten dazu beitragen. Für die erwachsenen AnalphabetInnen sollen Abendschulen eingerichtet werden.

In Banafshak, wo 2004 eine der ersten Schulen gebaut wurde, gibt es wieder Tee. Der Dorfvorsteher will nach der Schule neue Projekte in Angriff nehmen. Er weist auf das malerisch im Tal liegende Dorf und die umliegenden kahlen Berge. „Wir pflanzen schon Bäume, aber die brauchen viel Wasser“, sagt er bedauernd. Bäume gegen die Erosion, befahrbare Straßen für die wirtschaftliche Entwicklung wünscht er sich. Versprochen wurde den Menschen in der Region schon vieles. Der Erfolg der Schulprojekte hat ihnen Mut gemacht, dass es auch Versprechen gibt, die gehalten werden.