Ein feiger Märchenerzähler

Nicolas Sarkozy hat die Themen des Boulevards zu seinen Themen gemacht. Orte, wo man ihn ablehnt, meidet er lieber

Zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl am Sonntag treten zwölf Kandidaten an. Die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen ziehen in die Stichwahl am 6. Mai ein.Nicolas Sarkozy, 52: Der Chef der konservativen Regierungspartei UMP tritt für eine rigide Einwanderungspolitik und enge Beziehungen zu den USA ein. Ségolène Royal, 53: Die Sozialistin will als erste Präsidentin in die französische Geschichte eingehen. Kritiker werfen ihr vor, wenig politische Inhalte zu bieten und vor allem von ihrem Image zu profitieren. François Bayrou, 55: Der Politiker der Mitte gilt als der EU-freundlichste der vier aussichtsreichsten Kandidaten. Wie Sarkozy ist er jedoch gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Im Unterschied zu Royal und Sarkozy will er die Macht der EZB nicht beschränken. Jean-Marie Le Pen, 78: Der Veteran der extremen Rechten sorgte 2002 für eine große Überraschung, als er es in die Stichwahl um das Präsidentenamt schaffte. Tritt zum fünften Mal an und gibt sich überzeugt, den Coup von 2002 wiederholen zu können. Marie-George Buffet, 57: Chefin der kommunistischen Partei, frühere Jugendministerin. Arlette Laguiller, 67: Trotzkistin, die bereits 1974 zur Präsidentschaftswahl antrat. Gewann 2002 in der ersten Wahlrunde 5,7 Prozent der Stimmen und trug damit zur Niederlage des Sozialisten Lionel Jospin bei. Olivier Besancenot, 33: Chef der zweiten größeren trotzkistischen Partei Frankreichs, auch als „kleiner roter Briefträger“ bekannt. Kam 2002 auf 4,2 Prozent der Stimmen. Dominique Voynet, 48: Frühere Umweltaktivistin, die darum kämpft, die zersplitterten Grünen zusammenzuhalten. José Bové, 53: Globalisierungskritiker und Landwirt, musste lange um Unterstützung für seine Kandidatur kämpfen. Philippe de Villiers, 58: Chef der rechtsextremen Bewegung für Frankreich, Adliger, siebenfacher Vater. Frédéric Nihous, 39: Chef der Partei für die Jagd, Fischerei, Natur und Tradition. Gérard Schivardi, 57: Ein weitgehend unbekannter Bürgermeister, der mit einer Anti-EU-Plattform antritt. RTR, TAZ

AUS ISSY-LES-MOULINEAUX DOROTHEA HAHN

Pathos wabert durch die Sporthalle. Von „Liebe“ ist die Rede. Von „Familie“. Von „Freundschaft“. Von „Nation“. Von persönlichen Prüfungen. Und von „Blut“. Nicolas Sarkozy, der Ungar, der sich selbst gern als „Franzose mit gemischtem Blut“ bezeichnet, spricht mehr als eine Stunde lang. Schon nach wenigen Absätzen verlässt er den vorgedruckten Redetext. Nicht nur die Worte, sondern auch die Inhalte. Er lehnt sich mit ausgebreiteten Armen auf das Pult. Spricht schnell und aggressiv wie ein Agitator. Dann wieder tief und vibrierend wie ein Märchenerzähler. Nach und nach behandelt er alle Themen, die derzeit auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen stehen: Schwarzfahrer, die Kontrolleure prügeln. Witwen, die wegen der Erbschaftssteuer verarmen. Sozialhilfeempfänger, die mehr Einkommen haben als ihre arbeitenden Nachbarn.

„Gemeinsam wird alles möglich“ steht auf der Wand hinter dem Rednerpult. Sarkozys offizieller Slogan. Darunter prangt das Foto einer menschenleeren Hügellandschaft. Leicht gewellt. Satt grün. Darüber hellblauer Himmel, auf den ein paar flauschige Wölkchen getupft sind. Das Frankreich des UMP-Kandidaten. Er steht vor 2.000 Menschen in der Sporthalle von Issy-les-Moulineaux. Viele sind Erstwähler. Die Männer tragen Anzüge. Die Frauen Pumps zu Kostümen. Nicolas Sarkozy, 52, erzählt, von seinem persönlichen Weg. Davon, wie er 1977 in einem Saal wie diesem in der hintersten Reihe gestanden und von ganz vorn geträumt hat. Dem Platz vor der Menge, an dem er jetzt angekommen ist. Direkt vor der Bühne schwenken junge UMP-Anhänger zwei Tricolore-Fähnchen. Daneben halten andere vorgedruckte Schilder hoch. „Die Studenten mit Nicolas Sarkozy“ steht darauf. Und: „Die Jugend mit Nicolas Sarkozy“. Es ist das vorletzte Meeting vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am Sonntag.

Sarkozy ist jetzt in greifbarer Nähe des obersten Amts von Frankreich. Des Postens mit der höchsten Machtbefugnis im westlichen Europa. Offiziell hat er den gegenwärtigen und einen früheren obersten Repräsentanten der französischen Republik hinter sich: Der scheidende Staatspräsident Jacques Chirac und dessen Vorvorgänger Valéry Giscard d’Estaing haben erklärt, dass sie Sarkozys Kandidatur unterstützen. Seit Monaten nennen ihn die Umfragen an oberster Stelle der zwölf Kandidaten im ersten Durchgang. Mit bis zu 30 Prozent der Stimmen.

Aber Sarkozy kämpft weiter. Nach eigenem Bekunden ist er „seit 2002“ in Kampagne. Manche Kandidaten, die später losgelaufen sind als er, sagen in diesen Tagen schon Termine ab oder lassen sich vertreten. Er hält durch. Ist von morgens bis abends körperlich und intellektuell so präsent und so kampfbereit, dass viele nicht glauben mögen, dass er diese Energie nur seiner robusten Physis verdankt. Sein Hauptgegner in dieser letzten Kampagnenphase kommt aus seinem eigenen politischen Lager. Er saß in den 90er-Jahren gemeinsam mit François Bayrou in einer Regierung. In den vergangenen fünf Jahren gehörten die beiden derselben rechten Mehrheit im Parlament an. In den letzten Wahlkampfwochen wettert Sarkozy gegen Bayrou, „der ein Rechter war und jetzt als Linker antritt“, härter als gegen alle anderen Konkurrenten.

An diesem Abend kommt er direkt aus einem Fernsehstudio in die am südlichen Pariser Stadtrand gelegene Gemeinde Issy-les-Moulineaux. Sein Interview in der Hauptnachrichtensendung wird live auf die beiden Großbildschirmen neben der Bühnen übertragen. Das Publikum stöhnt genervt, als ein Journalist Sarkozy fragt, ob er „versteht, warum er vielen Franzosen Angst macht“. Der Kandidat legt seinen Kopf zur Seite, grinst ein wenig und blickt den Journalisten scharf an: „Die Leute spüren, dass ich gewinnen kann.“

Er mag es nicht, wenn andere als er selbst die Themen festlegen. Jahrelang ließ Sarkozy sich mit seiner attraktiven Gattin Cécilia an seiner Seite fotografieren. Doch dann ging sie mit einem Liebhaber nach New York, und auch Sarkozy hatte ein Verhältnis. Journalisten, die über ihr und sein außereheliches Leben berichten wollen, droht er mit Klagen. Paris schwirrt vor Gerüchten über die potenzielle künftige First Lady, die bei jeder Sarkozy-Rede in Sichtweite saß, aber seit Mitte Januar nirgends mehr mit ihrem Gatten auftritt. Der Kandidat äußert sich nicht dazu. Er hat den Familienjoker zu einem Familientabu gemacht.

In den letzten Wochen ist Sarkozy nur in Banlieues gefahren, die fest in der Hand seiner politischen Freunde sind. Dort hat er seine Besuche unangemeldet und blitzartig absolviert. Der Kandidat, der mehr polarisiert und spaltet als jeder andere, will Gegendemonstrationen vermeiden. Und nicht mit Jugendlichen zusammentreffen, die ihn vor laufenden Kameras daran erinnern könnten, dass er im Herbst 2005, als er Innenminister war und nächtens in manchen Vorstädten tausende von Autos abgefackelt wurden, durch seine aggressiven Worten Öl ins Feuer gegossen hat. Oder die erklären könnten, dass ein kleiner Funke genügen würde, um die Banlieues erneut zur Explosion zu bringen.

300 Meinungsumfragen gab es im französischen Wahlkampf – so viele wie nie zuvor. Fast alle Institute nennen Nicolas Sarkozy (bis zu 30 Prozent) und Ségolène Royal (bis zu 28,5 Prozent) als SiegerInnen im ersten Durchgang. Mit relativ großem Abstand gefolgt von François Bayrou (bis zu 19 Prozent) und Jean-Marie Le Pen (bis zu 15,5 Prozent). Fast alle Institute gehen auch davon aus, dass die Wahlbeteiligung morgen hoch sein wird. Dennoch ist der Ausgang völlig offen. Der Grund: Mehr als ein Drittel der WählerInnen haben ihre Wahlentscheidung noch nicht getroffen.

Eine „schlechte Kampagne“ sei es gewesen – so die weit verbreitete Meinung der FranzösInnen. Sie kritisieren, dass die KandidatInnen zu wenig über die großen wirtschaftlichen und sozialen Themen debattiert haben. Die großen außenpolitischen Fragen – insbesondere zur Europäischen Union, aber auch zur Zukunft der französischen Afrikapolitik – glänzten im Wahlkampf durch Abwesenheit.

Die FranzösInnen kritisieren, dass die Medien sich stark auf die vier „großen“ KandidatInnen konzentrierten. Und dass die Programme der „kleineren“ KandidatInnen kaum bekannt geworden sind.

Besonders heftig ist die Kritik an der „tendenziösen“ Arbeit der Meinungsforschungsinstitute. Sie haben in wenigen Wochen den rechtsliberalen Kandidaten Bayrou, dessen Anteil bei 6 Prozent lag, auf mehr als 20 Prozent hochkatapultiert. „Manipulation“ lautet ein häufiges Urteil. Dass Laurence Parisot, die Chefin des Arbeitgeberverbands Medef, der Sarkozy unterstützt, Hauptaktionärin des großen Meinungsforschungsinstitutes Ipsos ist, nehmen viele als Erklärung dafür, dass Sarkozy seit Monaten so gut wie alle Umfragen anführt. DORA

Wenn es zu Gegendemonstrationen in seinem Wahlkampf kommt, sagt Sarkozy Besuche notfalls im letzten Moment ab. Im Lyoner Stadtteil Croix-Rousse, wo ihn eine Gruppe von Demonstranten erwartet, die gegen Polizeirazzien in Kindergärten und Schulen protestieren, begründet er sein Nichterscheinen mit einer „Flugzeugverspätung“. Doch niemand glaubt ihm.

In Meaux, im Osten von Paris ein paar Tage später hat eine andere Verhinderungstaktik. Da halten Polizisten zwei Busse voller Arbeiter aus verschiedenen Fabriken mit „Routinekontrollen“ am Straßenrand fest. Die Arbeiter wollen Sarkozy wegen drohender Massenentlassungen zur Rede stellen. Als die Polizei die Busse nach mehreren Stunden weiterfahren lässt, ist Sarkozy schon weitergereist. Schon ein Vorgeschmack auf das Frankreich der „Werte“, das er als Staatspräsident will? Sarkozy will statt der „erlittenen Einwanderung“ eine „gewählte Einwanderung“ einführen. Will nur jeden zweiten Beamten, der in Rente geht, ersetzen. Will Arbeitslosen die Unterstützung streichen, wenn sie mehr als zwei Jobangebote ablehnen. Sagt, dass Leistung sich wieder lohnen soll. Dass er die Vermögens-, Unternehmens- und Erbschaftssteuer senken oder ganz abschaffen und die 35-Stunden-Woche streichen will.

In Issy-les Moulineaux sitzen brave Bürger in der Sporthalle. „Sie sind die schweigende Mehrheit“, sagt Sarkozy zu ihnen. Er meint das als positiven Kontrast zu den Wiederholungsstraftätern, Schwarzfahrern und anderen Rechtsbrechern, die seine Reden bevölkern. Noch drei Monaten zuvor hat Sarkozy am Tag seiner Inthronisierung als offizieller Präsidentschaftskandidat der UMP vor einem ähnlichen Publikum versichert: „Ich habe mich geändert.“ Am selben Abend versichert er in dem selben inbrünstigen Ton: „Ich habe mich nicht geändert. Und ich werde mich nicht ändern.“ Niemand räuspert sich. Sarkozy kann eben erzählen, was er will.