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Archiv-Artikel

Stress im Mutterleib

FORSCHUNG Verfechter der pränatalen und perinatalen Psychologie pochen auf die lebensgeschichtlichen Auswirkungen vorgeburtlicher Erfahrungen und Belastungen. Manch Traumata hat hier seinen Ursprung

Ein Geburtstrauma kann durch die Narkose während eines Kaiserschnitts entstehen

VON HANNAH SCHÜNEMANN

Noch vor vierzig Jahren hat man gesagt, dass das Kind Schwangerschaft und Geburt emotional nicht miterlebt. Dass jedes Kind auch vor der Geburt ein fühlender und empfindsamer Mensch ist, war kaum vorstellbar. In der Psychotherapie hingegen gibt es schon seit langem Beobachtungen zu möglichen lebensgeschichtlichen Auswirkungen vorgeburtlicher Erlebnisse und Belastungen. Verfechter der sogenannten pränatalen und perinatalen Psychologie bahnen sich nun langsam, aber sicher einen Weg in die medizinische Forschung und in die Behandlungskonzepte der Psychotherapie. Ein Blick in dieses Gebiet zeigt, dass die Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt für das Leben eines Menschen anscheinend nicht unerheblich ist.

Bereits in den 1920er Jahren legten Außenseiter der Psychologie Konzepte zum Umgang mit unverarbeiteten, vorgeburtlichen Erlebnissen vor. Inzwischen gibt es Ansätze, wie man an diese oft vergessenen Erfahrungen herankommt. „Erwachsene Patienten kommen häufig erst durch Bilder oder Träume darauf, dass es da einen Zusammenhang gibt. Denn an diese Erlebnisse haben wir keine kognitive Erinnerung. Erst durch Kunst-, Musik- oder Psychotherapie können diese Erfahrungen zu Tage gefördert werden“, beschreibt der Kölner Pränatal-Therapeut Klaus Evertz.

Platzangst, Prüfungsängste, Aufmerksamkeitsdefizite sowie Stresssyndrome bis hin zu Verhaltensstörungen, depressiven und schizophrenen Anwandlungen können auf vorgeburtliche Problematiken hindeuten. „Man muss sich das so vorstellen: Der kleine Organismus des Fötus kann von den Affekten des großen Mutterorganismus geradezu überflutet werden“, erklärt Evertz. Wenn die Mutter etwa während der Schwangerschaft unter enormem Stress steht, ist auch der Fötus permanent gestresst. Der Begriff der „fötalen Programmierung“ soll beschreiben, dass solche Einwirkungen schwerwiegende Folgen für das ganze Leben haben können.

Aber auch die Geburt selbst kann ernsthafte Auswirkungen haben. Ein klassisches Geburtstrauma kann laut Pränatal-Psychologie beispielsweise durch die Narkose während eines Kaiserschnitts entstehen. Durch die Betäubung gelangen keine Hormone zum Kind, also auch keine Glücksgefühle. Für das Kind war die Geburt dann ausschließlich durch Angst und Schmerz geprägt. Freude und Erfolgserlebnis fehlen völlig. Diese Erfahrung kann dann später in Form von Prüfungsangst oder verzweifelter Sinnsuche wieder auftauchen.

Die Behandlung solch psychischer Belastungen ist inzwischen aber gut möglich. Spezifische Ausbildungen und Therapiekonzepte machen die Auseinandersetzung mit dem frühesten Lebensabschnitt möglich. Der Patient muss dafür zunächst den Zusammenhang seines psychischen Leidens und der vorgeburtlichen Erfahrung rational verstehen. Um eine Heilung zu ermöglichen, müssen die Gefühle, die während der Schwangerschaft und Geburt problematisch waren, nachempfunden, ausgedrückt oder „reinszeniert“ werden, so Evertz.

Der Weltenwechsel des Fötus sei eine überaus bedeutsame Erfahrung, sagt auch der Psychoanalytiker Ludwig Janus. „Grundlegend ist, dass diese Erfahrungen bisher so wenig benannt sind, weil es sich um vorsprachliche Erfahrungen handelt. Das ist aus unserer traditionellen Denkweise her schwer zu verstehen.“ Die Zeit vor und während der Geburt muss laut Janus darum mehr Anerkennung finden und in Forschung und Praxis miteinbezogen werden.

Allerdings werden von anderen Experten auch Zweifel geäußert, ob eine problematische Schwangerschaft und Geburt als Wurzel allen Übels gesehen werden kann. „Ich halte solche einseitigen Erklärungen in Anbetracht der Komplexität der Dinge für hochproblematisch. In erster Linie geht es um die Interaktion von Mutter und Kind. Diese beeinflusst das kindliche Wohlbefinden und seine Entwicklung stark“, sagt Nina Fidel. Die Kinder- und Jugendlichentherapeutin hat in ihrer Arbeit festgestellt, dass vor allem mütterliche Problematiken, wie zum Beispiel Depressionen, belastend auf die Kinder wirken. Kann das Problem der Mutter behoben werden, dann geht es in der Regel auch den Kindern besser. „Eine vorgeburtliche Prägung gibt es auf jeden Fall. Ein Fötus kann bereits fühlen. Aber ich denke nicht, dass zum Beispiel ein Geburtserlebnis unbedingt traumatisch sein muss. Das kann sein, muss es aber nicht“, fügt Nina Fidel hinzu.