: Krieg auf halber Treppe
FLUCHT Der Hauptbahnhof von Mailand ist die Drehscheibe für syrische Flüchtlinge auf dem Weg nach Nordeuropa. 24 Stunden in einer Zwischenwelt
■ Ankunft: Das Programm der Stadt Mailand für syrische Flüchtlinge, die Tag für Tag zu Hunderten dort ankommen, begann im Mai 2014 und besteht aus Erstversorgung am Bahnhof mit Essen, Kleidung, Toilette, Arzt, aus einer Kinderbetreuung und mehreren Übernachtungsplätzen, die allerdings nur nachts genutzt werden können. Verschiedene lokale und internationale Hilfsorganisationen sind daran beteiligt.
■ Asyl: Nach Informationen der Stadt Mailand haben in einem Jahr nur 41 Syrer in Italien einen Antrag gestellt. So gut wie alle Flüchtlinge wollen nach Nordeuropa, wo sie sich bessere Chancen für ein neues Leben versprechen und vielfach Verwandte oder Bekannte haben.
■ Vertrag: Gemäß dem Dublin-Übereinkommen können Flüchtlinge nur in dem EU-Land um Asyl fragen, in dem nach ihrer Ankunft ihre Fingerabdrücke gescannt werden. Südliche Länder wie Italien und Griechenland scannen längst nicht alle Flüchtlinge, zumal dieses Jahr so viele Bootsflüchtlinge wie nie zuvor an ihren Küsten ankamen. Allein in Italien waren es im August schon mehr als 100.000.
AUS MAILAND TOBIAS MÜLLER (TEXT) UND DANIEL SEIFFERT (FOTOS)
Der Weg in die Stadt führt mitten durchs Krisengebiet. Von den Bahnsteigen eilen die Pendler über eine Treppe in die Empfangshalle hinunter, dem Feierabend entgegen. Reisende mit Rollkoffern sind da auch, Junge mit Rucksäcken, gerade angekommen aus Zürich oder Paris. Sie alle steuern auf den Ausgang zu, nach Mailand hinein.
Und dann entfaltet sich im Zwischengeschoss, das hier mezzanino heißt, eine ganz andere Szenerie. Die Menschen darin kommen aus Homs, Aleppo oder Damaskus. Frauen mit Kopftüchern, Männer in Trainingsanzügen, schlafende Kinder zwischen Reisetaschen. Willkommen in Milano Centrale.
Hunderte Syrer erreichen jeden Tag Mailand. Hinter ihnen liegen der Bürgerkrieg, die gefährliche Flucht nach Libyen, die Fahrt übers Mittelmeer, die Ankunft in Sizilien. Vor ihnen liegt, wenn alles gut geht, ein neues Leben im reichen Norden Europas jenseits der Alpen. Schweden, Deutschland, Dänemark, Niederlande, so heißen ihre Sehnsuchtsländer. Und Mailand, diese Stadt, die schon so nördlich wirkt, ist die Schnittstelle. Der letzte Stopp vor der Zukunft.
Es ist ihre Lage, die Mailand, die kühle und vornehme, auf die Landkarte der Migration gebracht hat. Und der Bahnhof mit seinen marmornen Hallen, kühnen Bögen und der monumentalen Front, mit Reliefs römischer Figuren an der Wand und den zwei fast weißen Pegasus-Statuen auf dem Dach, ausgerechnet Milano Centrale ist nun der Schauplatz. 30.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge sind hier im Lauf des vergangenen Jahres durchgekommen. 30.000, die auf halber Höhe der Treppen zu den Zügen verharrten, stundenlang, tagelang.
Gedrängt sitzen sie auf steinernen Wartebänken, auf dem Boden Taschen und Tüten. Freiwillige in orangen Westen registrieren an einem Holztisch die Neuen. „Emergenza Siria“ steht auf einem Plakat an der Säule daneben. Die Stadt hat im Mai ein Hilfsprogramm gestartet.
Wasserflaschen werden ausgeteilt. An der Wand hängen ein Stadtplan, eine Europakarte und ein Italienisch-Crashkurs. Wo ist der Ticket-Schalter? Wo kann ich eine SIM-Karte kaufen? „Dottore“, fragt eine junge Frau mit dunklem Kopftuch und in grauem Mantel und zeigt auf das kleinere ihrer beiden Mädchen. Valentina Polizzi, gekleidet in eine rote Save-the-Children-Weste, weist ihr zwischen Kindern, Erwachsenen und Inseln aus Gepäckstücken den Weg zur diensthabenden Ärztin. Seit Jahren kümmert sich Save The Children an den Küsten Italiens um Familien und Kinder. Hier auf dem mezzanino haben die Mitarbeiter bunte Plastikplatten auf den Steinboden gelegt, auf denen ein Dutzend Kleinkinder Bilder malen. Wenn sie fertig sind, werden sie auf dem Sockel einer Video-Werbewand aufgehängt.
Die Anwältin Valentina Polizzi, 37 Jahre alt, halblange braune Haare, energisch und fröhlich zugleich, erzählt, dass es in ihrer Stadt nun zugehe „wie am Meer“. Sie meint, dass ständig neue Flüchtlinge ankommen: zweihundert, dreihundert Syrer am Tag sind es meist. Einmal Anfang September aber waren es 1.400. Und allein in den vergangenen Monaten mehr als 3.500 Kinder. Save the Children versucht sich vorzubereiten, so gut es geht. Wenn die Mitarbeiter an der Küste melden, dass 1.000 Menschen auf Sizilien ankommen, werden mindestens die Hälfte davon am übernächsten Tag in Mailand sein. Der Ausnahmezustand nimmt langsam Struktur an.
Für Valentina Polizzi bedeutet das mehrmals pro Woche: über die Rechtslage informieren, erklären, was die Fingerabdrücke bedeuten, die nach der Ankunft in Italien bei manchen Syrern genommen werden und bei anderen nicht. Besonders kümmert sie sich um Familien, die unterwegs getrennt wurden. Auch eine kulturelle Vermittlerin ist immer dabei, oft selbst aus einer migrantischen Familie, immer arabischsprachig. Sie sind vor allem für die Schwangeren da, für Babys und Kranke.
Mit der Dämmerung leert sich der Bahnhof. Kein belebterer Ort findet sich jetzt in Milano Centrale als der mezzanino. Draußen bringen die weißen Taxis ihre Kunden in die laue Nacht, drinnen dreht ein Carabiniere mit sanftem Gesicht bedächtigen Schritts seine erste Runde. Die Syrer nehmen keine Notiz von ihm. Sie wissen: Italienische Behörden sind froh, wenn Flüchtlinge schnell weiterziehen.
Das würde Malaz Alkablawi auch liebend gern. Aber er braucht Geld. 15 Tage schon wartet er darauf und auf seine Frau, die mit ihrem Baby noch in Algier ist. Ein Foto seiner zehnmonatigen Tochter erscheint auf dem Display, wenn Alkablawi sein Telefon anstellt. Schnell schiebt er es weiter. Zehn Jahre hatte er Keramik in Spanien verkauft und war 2010 nach Syrien zurückgekehrt. Wegen seines Barts, sagt er, habe das Regime ihn als Islamisten verdächtigt. Und weil er so lange im Ausland war. Dreimal fielen die Schergen Assads bei ihm ein, verhafteten ihn, hielten ihn fest. Dann wusste Malaz Alkablawi, dass es Zeit ist zu gehen. Algier war das erste Ziel der Familie.
Hier war er vor fast 40 Jahren geboren worden. Die Eltern, syrische Gelehrte, hatten dort Arbeit gefunden. Sieben Sprachen spricht die Mutter, der Vater war Philosophieprofessor – „wie Hegel“. Alkablawi verehrt Hegel ebenso wie Ibn Hazm, den islamischen Philosophen des 11. Jahrhunderts. Dessen Buch, „Das Halsband der Taube“, begleitet ihn auf der Flucht. Der Untertitel: „Von der Liebe und den Liebenden“. Er zieht es unter seinem Fleece-Pullover hervor. Er liest, er streift durch den Bahnhof, er geht zu den Geldversendern von Western Union. Die Notunterkunft meidet Malaz Alkablawi, seit er sich dort mit einem Helfer stritt.
6.000 Dollar zahlten sie bisher für ihre Flucht
Lesen gibt ihm Halt, wenn die Bilder der vergangenen Monate hochkommen, die Schikanen der Schmuggler in Libyen, die er nur „Mafia“ nennt, das Warten auf das Boot, schließlich die Überfahrt, 264 Verzweifelte ohne Essen auf einer Fläche für höchstens 100 Personen, alles, was einem Wert entgegenläuft, über den er oft spricht und noch öfter sinniert: humanidad, das spanische Wort fällt ihm zuerst ein. Malaz Alkablawi hat früh ergraute Locken, sein Gesicht ist charismatisch, offen, sein Blick eindringlich. Manchmal, wenn er über Menschlichkeit spricht, beginnt er zu weinen.
In der Vorhalle des Bahnhofs hat sich eine Traube um einen weißen Transporter gebildet. Er fährt zu einer der fünf städtischen Schlafunterkünfte und bietet damit die letzte Chance auf eine Matratze in dieser Nacht. Der Bus wird voll. Auf dem mezzanino sind die letzten Freiwilligen mit dem Abbau beschäftigt. Die Kinderecke muss abgebaut werden, die Tische der Helfer. Auch Rita Lipardi packt an. Sie ist Psychologiestudentin, Mitte 20. Ein Freund erzählte ihr von dem Projekt, im Juli begann sie, sagt sie, und inzwischen ist sie jeden Tag hier. „Vielleicht wird es hier in 20 Jahren Krieg geben, und ich muss fliehen. Ob es dann wohl Menschen gibt, die mir helfen?“
Etwa zwei Dutzend Syrer steigen nicht in den Bus. „Wir wollen so schnell wie möglich weiter“, sagt Mahmoud Sheikh Ahmat, ein kräftiger Mann, rosa T-Shirt, ernstes Gesicht. Er ist mit vier Freunden unterwegs, alle um die 30, die in Syrien als Lehrer und Pharmazeuten ihr Geld verdienten. Er selbst ist Englischlehrer. Sheikh Ahmat berichtet, der Weg aus dem Krieg habe jeden bislang 6.000 Dollar gekostet, davon allein 1.500 das Boot nach Lampedusa. Schon deshalb sind die fünf nun auf den Zug festgelegt. Menschenhändler, wie sie die Schmuggler nennen, würden 1.000 Dollar für eine Autofahrt nach Schweden nehmen. In das Land mit der großen syrischen Community, das viele Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Keine Option das Auto, sagt Mahmoud Sheikh Ahmat. „Wir vertrauen keinem Menschenhändler.“
Die Nachtgeschichten auf Centrale sind selten gute. So wie die von Qasm Omia, einem palästinensischen Künstler aus Damaskus. Er erzählt, wie er vor den Bombardements Assads in den Libanon floh. Von dort ging es per Flugzeug nach Khartum im Sudan, dann fünf Tage mit einem Geländewagen durch die Wüste nach Libyen. Qasm Omia hockt sich auf den Boden und kauert sich zusammen, um die Reisehaltung zu imitieren. Am Schluss hatten sie nur noch Datteln zu essen, das Wasser war fast alle. Omia träumt davon, in den Louvre zu gehen. Im Van-Gogh-Museum will er die Techniken des Meisters studieren.
Langsamen Schritts kommt der Carabiniere mit dem sanften Gesicht wieder vorbei. Zwei Männer sind auf dem Boden eingeschlafen, unterhalb des Schilds, das Betenden die Richtung von Mekka anweist. Ein anderes Plakat markiert die täglichen Gebetszeiten, doch viel gebetet wird nicht auf dem mezzanino. Qasm Omia und ein Bekannter wollen morgen nach Deutschland weiter – falls es bei Western Union Geld für sie gibt. Die rote Digitaluhr an der Seitenwand zeigt jetzt 1 Uhr morgens an. „Siria?“, fragen Polizisten am Eingang die letzten Versprengten. Wer verneint, muss nach draußen. Dann schließt der Bahnhof für ein paar Stunden.
Als sich die Glastüren wieder öffnen, verharrt das mezzanino in einem Zwischenzustand. Wer noch ein warmes Kleidungsstück besitzt, hat es jetzt übergezogen. Einer der beiden Männer vor dem Mekka-Schild schläft noch, der andere sitzt blinzelnd daneben. Vom Café unten im Erdgeschoss aus zieht das Aroma von Espresso und süßem Gebäck durch die Halle. Nicht für die Syrer allerdings, die ihr Geld für Zugtickets sparen und auf die Essensausgabe warten. Zwei japanische Backpacker werfen von der Treppe einen verwunderten Blick auf die halbschlafende Gesellschaft.
Freiwillige bringen palettenweise Wasser
Oben will sich Malaz Alkablawi gerade zur Ruhe begeben. Er schläft nicht mehr, wenn der Bahnhof zu ist, seit ihm eines Nachts einer der beiden Rucksäcke gestohlen wurde. Wer, fragt er fassungslos, stiehlt von Menschen, die solche Probleme haben? Malaz mag diese unbelebte Stunde. Als er klein war, beginnt er auf einmal zu erzählen, wollte er Kriegsfotograf werden. Und jetzt sei er vor dem Krieg auf der Flucht, ist das nicht seltsam? Er legt sich schlafen. „Eine Stunde, dann bin ich wieder okay.“
Was für ein Fremdkörper dieser mezzanino ist. Eine unsichtbare Wand scheint Flüchtlinge und Reisende zu trennen, nicht einmal der manchmal so redselige Hegelianer Malaz hatte je Kontakt zur Außenwelt ein paar Meter weiter. Zwischen Tausenden von Rollkoffern verharren die Syrer hier auf einer halben Etage Krieg, während im Hintergrund auf der Videobildschirm Spots für den Fußballschuh Adidas Predator vorbeiflitzen und für die Milano Fashion Week, die in ein paar Tagen beginnt.
Zwei Männer bilden die Vorhut der Freiwilligen. Auf einem kleinen Wagen bringen sie palettenweise Wasserflaschen, das Zeichen, dass es gleich Frühstück geben wird. Schnell belebt sich nun die Szenerie: Erst kommt eine große Gruppe Flüchtlinge die Rolltreppe hoch, dann kehren die Westen zurück. Die roten von Save the Children bauen die Spielecke und den Wickeltisch auf. Die städtischen Mitarbeiter in den gelben Westen bereiten ihre Registrierungsstelle vor und beginnen Sandwiches mit Frischkäse und Nutella zu bestreichen. Dazu gibt es Wasser und Saft. Erst für die Kinder, dann die Erwachsenen.
Acht hungrige Mägen hat allein schon Familie Abdo, syrische Jesiden, die jahrelang in Libyen lebten und nun wegen der Gewalt gegen Christen auf der Flucht sind. Drei Mädchen, drei Jungen im Alter von vier, sechs, sieben, neun, elf, zwölf Jahren. Der Vater erzählt von der Vergangenheit. Nur was kommt, das weiß auch er nicht. Nach Dänemark wollen sie, sagt er, aber dann beginnt er zu zögern: Oder ist es irgendwo anders besser?
Gegen Mittag tauchen plötzlich 20 fahnenschwingende Gestalten in der Abfahrtshalle auf. Der Anführer hat ein Megafon. Italien könne nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen, tönt es über die Bahnsteige. Die Übrigen tragen Plakate, auf denen „Basta Clandestini“, „Schluss mit den Illegalen“ steht oder „Stop Mare Nostrum“, also die Rettung der Bootsflüchtlinge. Andere zeigen das Logo der rechten Fratelli d’Italia – Alleanza Nazionale. Nach ein paar Runden zwischen Cafés und Delikatessenläden ist der Spuk vorbei.
Der Bahnhof ist in Italien längst zum Streitfall geworden. Das UN-Flüchtlingshilfswerk lobte Mailands Einsatz als vorbildlich. Die italienische Rechte findet hingegen, dass noch viel mehr Flüchtlinge folgen werden, wenn man sie so freundlich in dem Bahnhof und den Notunterkünften empfängt. Und einer der Syrer sagt, man habe sich eigentlich mehr erhofft als ein Sandwich und Wasser.
Eine andere Gruppe bricht auf in Richtung der Gleise. Hala, eine junge Frau aus Homs, will mit ihrem Mann, den beiden Kindern und zwei Freunden den Zug nach Ventimiglia nehmen. Ein Taxi soll sie über die Grenze nach Nizza bringen, dann geht es mit dem Zug über Paris nach Deutschland. Ventimiglia, das ist die Route derer, die keine Papiere haben. Die anderen fahren über Verona nach München. Kurz darauf sitzen die Syrer in einem Abteil mit ein paar Wasserflaschen, etwas Gebäck für die Kinder und gespannten Gesichtern. Auf dem mezzanino haben sich derweil lange Schlangen gebildet: eine bei der Registrierung, die andere wartet auf Sandwiches und Wasser. 678 Neue, sagt eine Frau in Comune-di-Milano-Weste. Über den Nachmittag hinweg wird die Zahl auf mehr als 800 steigen. Willkommen in Milano Centrale.
■ Tobias Müller, 39, Benelux-Korrespondent der taz, ist seit Jahren auf den Migrationsrouten innerhalb der Festung Europa unterwegs
■ Daniel Seiffert, 34, ist freier Fotograf in Berlin. Mit Müller ist er schon mal vom Atlantischen zum Indischen Ozean getrampt