taz auf Hochtouren in NRW: Hartz IV, die neue Armut und die Schwierigkeit des Einzelfalls
Nur einen Satz benötigt Werner Eichhorst, um den zentralen Konflikt zu benennen. „Es ist immer schwierig, vom Einzelfall auszugehen“, sagt der Politikwissenschaftler vom Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit, um dann, allgemein betrachtet, die Vorzüge von Hartz IV beschreiben zu können. Das Schicksal der Betroffenen aber, das wird schnell klar bei der Podiumsdiskussion in der Kulturwerkstatt Paderborn, mag nicht so recht zur Arbeitsmarktreform passen.
„Die Armut wächst, das Klima wandelt sich, der nächste Krieg kommt – sind wir noch zu retten?“, fragt die taz bei ihrer Debattentournee durch Nordrhein-Westfalen. Zum Auftakt lasen am Montagabend taz-Parlamentskorrespondent Jens König und die taz-Autorin Nadja Klinger Auszüge aus ihrem Buch „Einfach abgehängt“.
„Es gibt einen eklatanten Mangel an Wissen über Armut“, sagt König – und zitiert damit nur eine Erkenntnis des CDU-Politikers Heiner Geißler aus dem Jahr 1976. Die Gesellschaft, sagt König, interessiere sich nur für Systeme, für die Agenda 2010, für den Umbau des Sozialstaates. Den Kontakt zu den Betroffenen habe sie verloren. Dabei könne nur durch genaues Hinsehen das Problem in seiner ganzen Schärfe wahrgenommen werden.
Was darunter zu verstehen ist, macht seine Coautorin Nadja Klinger deutlich. Sie liest eins der zwölf Portraits aus dem Buch vor: die Geschichte einer Berlinerin, die sich überschuldet, weil ihr Freund einen Kredit verspielt, für den sie gebürgt hat. Die in die Wirren der Hartz IV-Reform gerät und eine Umschulung zur Krankenpflegerin nicht genehmigt bekommt. Weil beim Jobcenter ihr Antrag verloren geht. Weil sie beim „Kunden-Pingpong“ der Sachbearbeiter untergeht. Weil der Chef des Jobcenters argumentiert, dass niemand ihr einen Job nach der Weiterbildung garantieren könne. Weil ihre Einzelfall nicht zu den Hartz IV-Bestimmungen passt. Ein Extremfall, wie Klinger zugibt. Aber ein Fall, der sehr gut beschreibe, in welcher Lage sich ein Mensch befinde, der „diese lebensfremde Reform leben soll“.
Da muss selbst ein Hartz IV-Befürworter wie Werner Eichhorst zugeben, dass es Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung der Reform gebe. Und dass die Effekte auf sich warten ließen. Dennoch verteidigt er die Arbeitsmarktreform. Schließlich habe sie das Ziel, die Betroffenen möglichst schnell wieder in Arbeit zu bringen und „die Transferabhängigkeit zu überwinden“. Dafür müssten auch Niedriglöhne in Kauf genommen werden. „Es muss möglich sein, knapp oberhalb einer Grundsicherung zu arbeiten“, meint Eichhorst. Denn mit Job habe man dann immer noch ein höheres Nettoeinkommen als ohne – und zudem ein besseres Selbstwertgefühl.
Doch bei den rund 60 Zuhörern in der Kulturwerkstatt erntet Eichhorst nur wütende Kritik. Sie fühlen sich mehrheitlich von dem „neoliberalen Technokraten“ brüskiert. Auch Eichhorsts Appell, der Staat müsse mehr in die Bildung investieren, um untere Schichten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, geht unter. Nicht nur die Sozialreform, gleich der ganze Kapitalismus wird vom Publikum in Frage gestellt.
Für die Bekämpfung der Armut gebe es keinen Königsweg, betont Jens König zum Schluss. Dafür gebe es viel zu verschiedene Milieus. Schon deshalb sei sicher: Mit einer Arbeitsmarktreform allein könne man die Armut nicht beseitigen.
Dann greift der Kabarettist Eckard Radau zum Mikrofon. Begleitet von Bernd Düring am Klavier singt er: „Wer wenig hat, dem wird auch noch das Wenige genommen.“ Auch das ist ein Zitat, von Heinrich Heine aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts.
GEREON ASMUTH
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