: Trauerarbeit auf Kalifornisch
Bei einem Anschlag auf einen US- Stützpunkt im Irak sind neun amerikanische Soldaten getötet worden. Wie die US-Armee in der Nacht zum Dienstag mitteilte, wurden 20 weitere US-Soldaten und ein irakischer Zivilist verletzt, als der Selbstmordattentäter die in einem Auto versteckte Bombe an dem US-Kontrollposten nordöstlich von Bagdad zündete. Es war einer der schwersten Angriffe auf US-Truppen in den vergangenen Wochen.
Unterdessen hält der US-Kongress an seiner Forderung nach einem Truppenabzug fest. Trotz der Veto-Drohung von Präsident George W. Bush knüpfen die Demokraten ihre Zustimmung zum Wehretat an den Abzug binnen einem Jahr. Vertreter von Senat und Repräsentantenhaus einigten sich am Montag auf ein Wehretatgesetz, über das in den kommenden Tagen in beiden Häusern des Kongresses abgestimmt werden soll. Das Gesetz sieht vor, dass noch in diesem Jahr mit einem Rückzug der US-Kampftruppen aus dem Irak begonnen wird. Spätestens am 1. April 2008 soll der Abzug abgeschlossen sein. Die Demokraten beschuldigen Bush, die Wirklichkeit im Irak zu verleugnen. DPA
AUS LAFAYETTE IN KALIFORNIEN ADRIENNE WOLTERSDORF
Vielleicht hat der hagere Mann recht: Das hier ist Gruppentherapie unter freiem Himmel. Denn während Jeff Heaton oben auf dem Hügel sitzt und Fragen beantwortet, streiten unten ein paar Aktivisten hörbar mit Passanten über das, was sie sehen: Kreuze. Heaton, 53, hat es fertig gebracht, eine selbstzufriedene Kleinstadt in Aufruhr zu versetzen. Scharen von Neugierigen, Empörten, Verunsicherten und Berichtenden sind schon hierher nach Lafayette gekommen, um zu sehen. Und um zu fühlen.
Was die Gemüter bis weit über die Grenzen Kaliforniens hinaus erregt, ist ein Wiesenhang, auf dem Kreuze stehen. Tausende Holzkreuze. 3.248 waren es am letzten Sonntag, als gerade wieder einmal nachgezählt wurde. Jedes Kreuz steht für einen im Irak gefallenen amerikanischen Soldaten. Oder fast. Denn die AktivistInnen waren fleißig, sie sind der Realität schon um 117 Kreuze voraus. „Das kommt noch“, sagt einer von ihnen nach dem Zählen. Kein Grund zur Korrektur, es wird weiter gestorben im Irak.
Stehen, schauen, trauern
Der Ort für die selbstgebastelte Gedenkstätte ist gut gewählt. Der Hang liegt gegenüber der U-Bahn-Station von Lafayette, wo jeden Morgen hunderte Pendler auf ihre Metro nach San Francisco warten. Sie stehen und schauen, sie haben Zeit zum Nachdenken. Auch von der hinter der Station verlaufenden Autobahn aus, dem Highway 24, sind die Kreuze beim besten Willen nicht zu übersehen. Mittlerweile bilden sie ein weißes Balkenmeer, aus dem ein riesiges Schild herausragt mit der jeweils am Wochenende aktualisierten Zahl der toten Soldaten darauf.
Wie jeden Sonntag werkeln ein paar Freiwillige am Hang, sie heben das Loch für ein neues Kreuz aus. Andere kommen einfach nur mal über die vierspurige Straße gelaufen, um aus der Nähe schauen zu können. Zwei ältere langhaarige Männer haben sich hinter einem Pick-up-Truck versteckt und ziehen einen Joint durch.
Lafayette, die wohlhabende Einfamilienhausgegend, hat seit einem halben Jahr ihr Gesprächsthema. Es ist ein Ort, an dem Grundsätzlicheres diskutiert wird als Mülltrennung und Parkzonen. Seit die Kreuze stehen, ist es in dieser Idylle vorbei mit der Wohlanständigkeit. Kreuze wurden nachts mit Teer beschmiert oder ausgerissen. Der Stadtrat bearbeitet Beschwerdeantrag um Beschwerdeantrag. Und auf dem Highway häufen sich die Auffahrunfälle, weil Neugierige abbremsen. Journalisten berichten umfassend und live vom Kreuzfeld.
Und dann gibt es Menschen wie Christin Fenwick. Die blonde Dralle ist mit ihrem Mann und der zehnjährigen Tochter 40 Meilen, knapp 70 Kilometer weit gefahren, um das Memorial zu sehen. Sie hatte vor ein paar Tagen zum ersten Mal von dem Streit in Lafayette gehört. Nun will sie, dass ihre Tochter das hier sieht. Dabei ist sie selbst unsicher, was sie von Bushs Krieg im Irak halten soll. „Ich weiß es einfach nicht“, sagt sie.
Eine Weile läuft sie Arm in Arm mit dem schüchternen Mädchen am Kreuzfeld entlang, schließlich meint sie: „Wenn ich diese Kreuze sehe, bricht es mir das Herz.“ Kaum hat sie das gesagt, laufen ihr Tränen übers Gesicht. „Das hier sind alles zerrissene Familien“, sagt sie und deutet auf die Kreuze. „Ehrlich, ich habe nicht geahnt, dass es so viele sind. Das ist entsetzlich.“
„Hier können die Leute endlich mit ihrer Trauer in Berührung kommen“, so erklärt Jeff Heaton, was sich bei denen abspielt, die nach Lafayette kommen. Er selbst bezeichnet sich als ihren „spirituellen Lehrer“, einen, der weiß, was Menschen in Krisensituationen brauchen. Und Amerika, so viel sei sicher, sei in einer Krisensituation. Er habe, nachdem er zehn Jahre lang in einem ökumenischen Konvent gelernt und gelebt habe, genug spirituelle Kenntnisse, um zu wissen, wie man mit Symbolen das menschliche Unterbewusstsein anregt.
Für Heaton ist die Sache klar: In seinem Land muss überhaupt erst einmal getrauert werden, sonst sei eine Heilung nicht möglich. Und da man nun mal in Amerika sei, erklärt er auf Nachfrage, könne man sich eben besser mit den eigenen toten Soldaten identifizieren als mit gestorbenen Irakern. Seine Kreuzinitiative als politisch zu bezeichnen, gefällt ihm, dem ehemaligen Vietnamkriegsgegner, daher nicht. Er nennt die Installation vorsichtig ein „Anti-Kriegs-Statement“. Oder, noch besser, „ein Graswurzel-Memorial“.
Die Angst ist überwunden
Natürlich muss auch Heaton von etwas leben. Zum Broterwerb leitet er ein selbst gegründetes „Psychic Institute“ in der nahe gelegenen Unistadt Berkeley. Und er baut Öko-Häuser, installiert Solardächer, kurz, er sorgt für Besserung allerorten. Dass ihn das viel Energie kostet, verrät sein hagerer, sonnengegerbter Körper. Er spricht viel von der Angst, die er anfangs vor seinen Kritikern hatte und die er überwinden musste. Denn die ersten Kreuze hat er gleich zu Beginn der Irak-Invasion im März 2003 aufgestellt, gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten. Als sie von wütenden Patrioten und Bush-Unterstützern angeschrien wurden und die Polizei sie anherrschte, was sie hier machten, sei verboten, habe er trotz seiner inneren Überzeugung klein begegeben. „Ich war noch zu schwach“, sagt Heaton.
Heute wirkt er wie einer, der an den vielen Auseinandersetzungen gewachsen ist. Ruhig und gefasst spricht er darüber, dass er den Vater eines gefallenen Soldaten verstehen könne, der ihn angeschrien, in seiner Rage ein Kreuz herausgerissen und es ihm vor die Füße geworfen hat. „Das war ein Beispiel dafür, wie zwei Menschen gleichzeitig so richtig und doch so falsch liegen können“, sagt er. „Ich verstand es als Reaktion auf seinen Schmerz.“
Um Gefühle gebt es in Lafayette dauernd. Heaton, der sein Projekt als anarchisches Arlington versteht, in Anlehnung an den offiziellen Heldenfriedhof der US-Regierung bei Washington, lässt jeden machen, was er für richtig hält. Ob es junge Christen sind, die den Kreuzen nach der Weihnachtsmesse rote Schleifen verpasst haben, ob die Organisation „Großmütter für den Frieden“, die Nacht- und Kerzenwachen gehalten haben, oder andere, die kleine US-Flaggen angebracht haben. Jeder Vorschlag wird unter den 20 bis 50 regelmäßigen Freiwilligen diskutiert. Manchmal geht eine Idee nach hinten los, etwa die, die Totenzahl mit Neonröhren anzuleuchten. Oder die, auf die Kreuze die Namensschilder von Gefallenen zu kleben. „Das kam nicht gut an“, sagt Heaton und zwirbelt ein paar Grashalme, „denn das hätte gleich Friedhofscharakter gehabt und die Frage aufgeworfen, was nach dem Memorial noch folgen soll.“ Einige Angehörige haben aber auch darauf bestanden, ein Foto ihres gefallenen Sohnes oder ihrer getöteten Tochter anzubringen. Trauer hat eben viele Facetten.
Und dann gibt es da noch die Wut. Die negativen Gefühle gegenüber den Kreuzen, gegenüber Heaton und seinen Vaterlandsverrätern. Erst kürzlich demolierte eine empörte Veteranin, eine junge Marine-Sergeantin, das Schild mit der Zahl der Toten vor laufenden Kameras. „Ich sage den Familien immer, dass ihre Lieben nicht umsonst sterben“, sagt Heaton, „ihr Tod wird im Lauf der Geschichte sicher etwas bewirken.“
Doch viele wollen sich mit so vagen Versprechungen nicht zufriedengeben. Einer von ihnen ist Mark Crowley, 48. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt der Umgebung hat sich der landesweiten Organisation von Kriegsbefürwortern angeschlossen, der Move America Forward, kurz: MAF. In ihrem Namen hat er schon mehrfach gegen die Kreuze demonstriert. Seit 2004 sein 18-jähriger Sohn im Irak gestorben ist, sucht er nach einem Sinn in seinem Leben und nach der Gewissheit, dass dieser Tod nicht umsonst war. Auf der bislang größten Gegendemo vor dem Kreuzhügel, als im März 200 Kriegsbefürworter nach Lafayette kamen, schrie Crowley, die US-Flagge schwingend: „Viele sind für diese Fahne gestorben. Wer nicht treu zu ihr steht, soll sich zur Hölle scheren!“
193 Tote binnen sieben Tagen
Die Stadtverwaltung hat ihren Widerstand gegen das inzwischen prominente Denkmal aufgegeben. Anfangs hatte der Stadtrat, ein überwiegend mit Konservativen besetztes Gremium, alles versucht, Heaton und seine Unterstützer, das Ehepaar Louise und Johnson Clark, zu stoppen. Doch ein Blick in die Verfassung machte schnell klar, dass die Friedensfreunde durch den Artikel 1, der jedem US-Amerikaner Meinungsfreiheit garantiert, geschützt sind. Und dass das Kreuzfeld, auf dem Privatgrundstück der Clarks stehend, rechtens ist.
Außerdem ist da noch die schlechte Nachrichtenlage. Nahezu jeden Tag wird weiter im Irak gestorben. Und wie jeden Sonntag wird der death toll, die aktuelle Zahl der Gefallenen, auf das Schild oben auf dem Hügel geschrieben. 3.441 steht da jetzt, 193 mehr als vor einer Woche. „Neulich hat die Stadtverwaltung uns gefragt, ob man hier in Lafayette nicht über etwas denkmalmäßig Dauerhafteres nachdenken könnte“, sagt Heaton der Heiler.
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