: Kuchenbacken in der Zeitschleife
Zum ersten Mal stemmt das freie Oldenburger Theater Wrede ein europäisches Theaterfestival. Geforscht werden soll bei „Klang der Zeit“ noch bis zum Sonntag nach einer international verständlichen Theatersprache. Worte helfen da nur manchmal weiter
aus Oldenburg ANNEDOORE BEELTE
„Sonnenuntergang in 5 Minuten“ verheißt die Projektion. Dem Publikum in der Oldenburger Theaterfabrik Rosenstraße vergeht das Lachen schnell. Volle fünf Minuten müssen ausgeharrt werden. Oder sind es mehr? Weniger? Keiner weiß es: Die Armbanduhren sind am Eingang eingesammelt worden. Hüsteln, Füße scharren, unruhiges Rutschen auf den Stühlen. Nach vier Minuten dann färbt sich das Licht rosa. Und nach fünf Minuten ist es dunkel. Das war alles? Tja, der Weg ist das Ziel. Und das Warten die Erfahrung.
An sechs Festivaltagen spürt das Theater Wrede dem „Klang der Zeit“ nach. Unter diesem Thema sind vier Produktionen aus den Niederlanden, Belgien und Serbien zu einem europäischen Theaterfestival zu Gast. Oldenburger Schulklassen, Nachwuchs-Bands und Jugendtheater-Gruppen haben eigene Produktionen erarbeitet, denen morgen der ganze Tag gewidmet ist. Den Festival-Auftakt machte am Dienstag mit „time is honey“ eine Eigenproduktion des Theaters Wrede.
„Es ist zehn Jahre her, dass die Kulturetage in Oldenburg mal eine Festival im europäischen Rahmen organisiert hat“, sagt Winfried Wrede, der gemeinsam mit Marga Koop die Theaterfabrik leitet. Beide machen seit mehr als 20 Jahren experimentelles, gattungsübergreifendes Theater in Oldenburg und haben seit 1999 eine feste Spielstätte in der Rosenstraße. Ende 2007 wird diese Phase zu Ende gehen: Dann läuft der Mietvertrag aus. Da das freie Theater stets auf internationale Festival-Einladungen angewiesen ist, schien es Wrede nur konsequent, dass eine Gelegenheit her musste, sich zu revanchieren.
Ursprünglich sei das Treffen in größeren Dimensionen geplant gewesen, berichtete Oldenburgs Kulturdezernent Martin Schumacher bei der Eröffnungsfeier. Doch dann sei bereits eingeplantes EU-Geld ausgeblieben. Auf eigene Produktionen für das Festival und eine Vielfalt von Spielstätten musste daher verzichtet werden. „Die Latte für EU-Förderung liegt viel zu hoch für ein freies Theater“, sagt Winfried Wrede. Andererseits sei aber bei der regionalen Kulturförderung auch kein Topf für europäische Projekte vorgesehen.
Das Festival „Klang der Zeit“ soll eine Forschungsstation sein, auf der nach einer gemeinsamen, international verständlichen Theatersprache gefahndet wird. Die eingeladenen Gruppen bringen jeweils ihre eigene Lösung mit, sagt Wrede: Bei der niederländischen Theatergroep De Bus mischen sich vier Sprachen in einem Satz. Dagegen arbeitet das serbische Bitef Teatar beinahe ohne Worte und setzt den Klassiker „1984“ mit Videoprojektionen und multimedialen Effekten in Szene. Und das belgische Ensemble Agora schließlich bedient sich der herkömmlichen Methode: „Die Kreuzritter“ – eine Komödie um ein Hospital, das Traumatisierte für den nächsten Kreuzzug fit macht – wird bei Gastspielen in die jeweilige Landessprache übersetzt.
Dieser Beitrag ist ein Beleg dafür, dass Koop und Wrede den Worten nicht gänzlich misstrauen. In Stücken für Kinder, die so klein sind, dass sie gemeinhin als noch nicht theaterfähig gelten, haben die beiden die Möglichkeiten des nonverbalen Spiels ausgefeilt. „Unter acht Jahren versteht man keine Ironie“, weiß Wrede. Da müssen sich Theaterleute etwas anderes einfallen lassen als Wortakrobatik. Die belgische Kompagnie Iota zum Beispiel verspricht, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ so in Tanz umzusetzen, dass schon Dreijährige die Geschichten und die Emotionen darin entschlüsseln können.
In „time ist honey“ arbeitet das Theater Wrede mit seiner ganz eigenen, so hartnäckigen wie unaufdringlichen Art, das Publikum einzubeziehen: Weit weg sind diese quälenden Momente, in denen Akteure im forschen Trainer-Tonfall auf das Publikum losgehen, um spontane Geistesblitze aus ihm herauszuquetschen. Stattdessen werden hier die Emotionen des Stückes am eigenen Leib erfahrbar: die Langeweile, das Warten, das Gängeln eines engen Zeitkorsetts. Sogar die Service-Mitarbeiterinnen verfolgen die Zuschauer unerbittlich durch die Pause, um mit energischem Klatschen klarzumachen, dass hier nicht ewig geplaudert werden darf. Unversehens bekommt der eine Besucher eine Nackenmassage, der anderen ein Stück frisch gebackenen Kuchen, und als Gegenleistung wird nur Staunen erwartet.
Zeit, das ist die über Jahrhunderte gegen das aufkeimende Selbstbewusstsein der bildenden Künste verteidigte Domäne der sprachlichen Erzählung: Nur die Dichtung, meinte noch Lessing, mache das Abspulen einer Handlung von Anfang bis Ende möglich. Und jetzt ein Stück über die Zeit fast ohne Text, erzählt mit Tanz und Körpersprache, Videobildern und Phantasiesprachen? Von der Idee einer „Handlung“ muss man sich da verabschieden.
Dafür ermöglicht es das Medium Video, in der Zeit vor und zurück zu reisen, den Moment wieder und wieder zu erleben. In der wunderbaren Back-Szene springen die Eier auf einem der Bildschirme immer wieder in die Schalen zurück, ein anderer friert den Moment des Teigschleckens ein. Doch der erst buttrige, dann knusprige Duft des vor sich hin backenden Kuchens erinnert daran, dass die Zeit doch unaufhaltsam verstreicht. Ergreifende Momente transportiert die Körpersprache, wenn einer der Darsteller das Ballett des alltäglichen Tagesablaufs nicht mehr bewältigt, langsamer wird und schließlich so passiv, so arglos wie ganz am Anfang und ganz am Ende des Lebens.
Die besten Pointen jedoch bleiben auf die Sprache angewiesen. Etwa die Gedankenakrobatik der Selbstmordkandidatin: Wenn ich jetzt in Paris vom Eiffelturm springe – wie viele Stunden bleiben mir dann noch in New York, um etwas zu erledigen?
Bis Sonntag, 29. 4.; Programm unter www.theaterwrede.de