: Unsere Performer
Politiker inszenieren sich ständig selbst. Das müssen sie sogar. Aber verstehen wir auch, was sie uns sagen wollen? Ein Plädoyer für den klaren Blick auf das Showgeschäft
von BETTINA GAUS
Die Inszenierung von Politik gehört zu den beliebtesten Themen der politischen Feuilletons und Fernsehtalkshows. Ein klagender Ton liegt über den Erörterungen. Der Glaubwürdigkeitsverlust von Politikern wird dabei ebenso beschworen wie die grundsätzliche Bedrohung der Demokratie. Allmählich wird das lästig. Was nämlich als nützliche Aufklärung der Öffentlichkeit begann – nur wer die Regeln kennt, kann ein Spiel durchschauen –, ist mittlerweile zu einem vielstimmigen Chor geworden, der das ewig gleiche, larmoyante Lied von der Hinterlist aller Politiker singt. Die Klage geht am Thema vorbei. Inszenierung von Politik ist als solche weder verwerflich noch neu.
Demosthenes redete mit Kieselsteinen im Mund gegen den Lärm der Meeresbrandung an. Der Legende nach litt der Mann, der später der bedeutendste Redner des antiken Griechenland werden sollte, unter einer Sprachbehinderung. Ihm war klar: Es kommt auch auf die Verpackung an. Wer Anhänger gewinnen will, muss dafür eine anmutige oder provozierende oder gefällige Form finden – er muss die richtige Dramaturgie wählen. Also inszenieren.
Als Joschka Fischer 1984 zum damaligen Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen im Parlament sagte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“, da hat er sich inszeniert. Als tapferer, kompromissloser Oppositionspolitiker. Als John F. Kennedy 1963 beim ersten Besuch eines US-Präsidenten in Berlin nach dem Mauerbau die nachweislich falsche Behauptung aufstellte, auch er sei ein Bewohner dieser Stadt, da hat er sich inszeniert. Als bedingungsloser Freund der geteilten deutschen Nation.
Hat sich auch Willy Brandt inszeniert, als er 1970 vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos auf die Knie fiel? Die Frage, ob die Geste spontan erfolgte oder ein geplanter symbolischer Akt war, wurde seinerzeit äußerst kontrovers erörtert. Warum eigentlich? Die Absicht wäre doch in beiden Fällen dieselbe: der Wunsch, im deutschen Namen für die Verbrechen des Nationalsozialismus um Vergebung zu bitten. Seltsamerweise aber schiene dieser Wunsch vielen Leuten weniger glaubwürdig, wenn Willy Brandt sich darüber bereits im Vorfeld seiner Reise Gedanken gemacht hätte. Spontaneität erhöht die Glaubwürdigkeit eines Anliegens. Das stellt Politiker vor ein Dilemma. Spontaneität lässt sich naturgemäß schwer planen. Also wird Erschütterung, Ernsthaftigkeit, Entrüstung, persönliche Verletztheit inszeniert. Politiker mutieren zu Schauspielern.
Aber viele Leute merken durchaus, dass ihnen etwas vorgespielt wird. Wenn sie die Regeln nicht kennen, denen die Inszenierung folgt, fühlen sie sich besonders betrogen, sobald sie meinen, ein Schauspiel entlarven zu können. Bleibt nach einer politischen Gesprächsrunde die Kamera ein wenig länger auf die Teilnehmer gerichtet, dann erreichen die Fernsehsender regelmäßig entrüstete Anrufe. Zuschauer empören sich darüber, dass Protagonisten, die eben noch erbittert gestritten haben, gemeinsam lachen und plaudern, sobald die Sendung vorbei ist. Was bei Sportlern als Ausweis von Fairness gilt – nämlich die Gegnerschaft auf die Sache zu beschränken –, wird bei Politikern als Verlogenheit interpretiert.
An dieser Stelle kommen die Medien ins Spiel. Journalisten brauchen Dramen. Das gilt auch für seriöse Medien, nicht nur für die Boulevardpresse. Personalisierung und Zuspitzung erwecken Interesse, und natürlich sind Medien darum bemüht, das Interesse ihres jeweiligen Publikums zu halten. Beim Sport ergibt sich das Drama ohne weiteres Zutun. In der Politik ist das Drama nicht selbstverständlich. Eine Fachkontroverse über Details der Unternehmensteuerreform ist ungeeignet, Zuschauer oder Leser in zitternde Spannung zu versetzen. Deshalb muss jeder kleine Disput zum bitterbösen Koalitionskrach hochgespielt werden. Sonst langweilt sich das Publikum.
Die Medien können kein Interesse daran haben, ein inszeniertes Drama als solches zu entlarven – es sei denn, die Entlarvung verspricht das noch größere Drama. Dieses Zusammenwirken von Politik und Medien schürt Misstrauen beim Publikum. Nicht etwa deshalb, weil Medien und Politik sich inszenieren. Das ist unvermeidlich. Sondern weil die Beteiligten nicht zugeben, dass es unvermeidlich ist.
Es hat dem Ruf von Demosthenes nicht geschadet, dass er mit Steinen im Mund am Meer stand. Wenn sich in Deutschland jemand einem Medientraining unterzieht, dann ist das eines der bestgehüteten Geheimnisse der Republik. Leider. Solange jede Arbeit am eigenen Image als Betrug an der Öffentlichkeit betrachtet wird, so lange kann die Fähigkeit gar nicht entwickelt werden, verschiedene Inszenierungen zu analysieren und auf ihre Wirkung hin abzuklopfen. Genau das wäre aber im Sinne der Aufklärung weitaus nützlicher als pauschale Klagen über die Inszenierung des politischen Alltags.
Unterstreicht eine geschickte Dramaturgie das jeweilige politische Anliegen oder ist eine Inszenierung nur Selbstzweck? Das ist die Kernfrage, um die es in jedem Einzelfall geht. Wenn eine Abgeordnete, die vor der Kamera unsicher wirkt, an einem Medientraining teilnimmt, dann täuscht sie nicht die Öffentlichkeit über ihren wahren Charakter, sondern sie erlernt ihren Beruf. Das ist ihre Pflicht. Andernfalls schadet sie ihrem Anliegen. Diese Arbeit an der Selbstdarstellung ist völlig legitim. Es geht ja – auch – um die Sache.
Nicht um die Sache ging es hingegen in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember 1992. Damals lagerten hunderte von Journalisten am Strand der somalischen Hauptstadt Mogadischu und erwarteten die Landung der ersten US-Truppen, die Nahrungsmitteltransporte für Hungernde sichern sollten. Die USA hatten aus verschiedenen Gründen großes Interesse daran, für ihre Intervention in Somalia eine gute Presse zu bekommen. Unter solchen Umständen wissen politische und auch militärische Akteure sehr genau, was von ihnen erwartet wird: ein Minimum an unterhaltsamen Elementen.
Der Presseoffizier Kirk Coker gehörte zur Vorhut, die kurz nach Mitternacht den Strand erreichte. Diese Vorhut bot ein wunderbares Bild. Mit Ausnahme von Coker hatten alle ihre Gesichter geschwärzt – offenbar sollte das der der Tarnung dienen – und sie bewegten sich wie im Lehrbuch vorgeschrieben: sichernd, das Gewehr im Anschlag, vorsichtig und offensiv zugleich. Nur dass sie sich, vorhersehbar, eben keinen bewaffneten Feinden gegenübersahen, sondern übermüdeten Journalisten. Denen versprach Coker: „Ihr bekommt eine wirklich gute Show.“ Er hielt Wort. Wenig später tauchten Amphibienfahrzeuge aus der Tiefe des Meeres auf. Die sind zur Bekämpfung einer Stadtguerilla zwar schlecht geeignet, aber telegen.
Die Inszenierung war reiner Selbstzweck. Weshalb eine seriöse Berichterstattung eigentlich darin hätte bestehen müssen, die Mechanismen der Dramaturgie zum Gegenstand der Reportagen zu machen. Um das zu tun, müssten Reporter allerdings unabhängig von Verlegerinteressen, von politischen Rücksichtnahmen und eigenen Unsicherheiten im Urteil sein. Da dies nicht so ist, wurde ernsthafter über die Ankunft der ersten US-Soldaten in Somalia berichtet, als die Umstände es verdienten.
Kompliziert wird es dort, wo Inszenierungen unvermeidlich, ihre Folgen aber weitreichender sind, als unbefangene Beobachter erkennen können. Beispiel Parteitagsregie. Eine Großveranstaltung muss geplant werden, und es ist verständlich, dass die Verantwortlichen auf größtmögliche positive Wirkung setzen. Längst ist es gängige Praxis, die Tagesordnung so zu planen, dass die prominentesten Redner früh genug für die „Tagesschau“ sprechen.
Im Hinblick auf Geschwindigkeit können Tageszeitungen mit Radio und Fernsehen nicht konkurrieren. Aber statt sich auf ihre Stärke zu konzentrieren – die Hintergrundberichterstattung – hecheln sie der elektronischen Konkurrenz hinterher. Zu ihrem eigenen Schaden. Und zum Schaden ihrer Leser.
Wenn Joschka Fischer auf dem Höhepunkt seiner Popularität beim Parteitag der Grünen eine Rede hielt, die um 18 Uhr zu Ende war, dann reichte das nicht nur für die Tagesschau, sondern auch noch für die Hauptnachrichten von RTL und ZDF. Für die Tageszeitungsreporter war jedoch eine vernünftige Analyse der Rede bis Redaktionsschluss nicht zu schaffen. Am nächsten Tag aber wäre das Thema veraltet – weil ja längst in der Tagesschau gelaufen.
Was also tun? Man fragt die Berater von Fischer, die spin doctors, schon im Vorfeld, welche Akzente er in seiner Rede setzen möchte. Die geben begeistert Auskunft. Das ist schließlich ihre Aufgabe: den Chef zu interpretieren. Und da angesichts der Zeitnot auch die besten Analytiker nicht mehr imstande sind, viele eigene Gedanken zu fassen, entsteht jene merkwürdig homogene Berichterstattung ganz unterschiedlicher Medien, über die sich viele Beobachter stets aufs Neue wundern und Parteistrategen stets aufs Neue freuen. Die Inszenierung des Zeitplans erleichtert in solchen Fällen also auch die inhaltliche Lenkung der Berichterstattung. Wehklagen darüber wird nicht helfen. Aber die Waffe der Dramaturgie wird entschärft, wenn die Öffentlichkeit die Mechanismen der Berichterstattung kennt und ein fundiertes Misstrauen gegen allzu eilfertige Analysen zu entwickeln lernt. Das hat nichts mit dem Klischee der angeblich ständig manipulierenden Medien zu tun.
Die Folgen von Parteitagsregie bestehen aber nicht nur in der einheitlichen Interpretation einer einzelnen Rede. Prominenz macht prominent. Deshalb werden zu den Talkshows von Christiansen über Maischberger bis Illner so häufig die immergleichen Gäste eingeladen. Man interessiert sich halt mehr für Leute, die man kennt, als für Leute, die man nicht kennt. Das System stabilisiert sich somit selbst: Wenn es jemand bis in die erste Reihe der politischen Akteure geschafft hat, dann bleibt er dort auch lange, sofern er keine gravierenden Fehler macht. Und wie schafft man es in die erste Reihe? Nach wie vor vor allem über die Ochsentour der Parteikarriere.
Wer im Bundestag oder auf einem Parteitag zu einem medienwirksamen Zeitpunkt reden will, braucht Rückhalt in Partei oder Fraktion. Andernfalls kommt man niemals in den Fernsehnachrichten vor. Irgendwann fragen die Anhänger, ob man eigentlich überhaupt nicht arbeite – wenig später ist man bereit, sich der geforderten Disziplin zu beugen. Also den Wünschen der Parteispitze. Auch deshalb ist interner Parteienstreit – eigentlich das Salz der Demokratie – so selten geworden. Ändern lässt sich das kaum. Aber wissen sollte man es, wenn man den politischen Betrieb beurteilen will. Die Kenntnis der Dramaturgie ist allemal nützlicher als die Klage darüber.
BETTINA GAUS, geboren 1956, ist Parlamentskorrespondentin der taz